Ein neuer Ton

Von Christina Selzer · 29.06.2009
Im Bremer Stadtteil Tenever, wo Menschen aus 88 Nationen in einem schwierigen sozialen Umfeld leben, hat sich vor zwei Jahren die Deutsche Philharmonie Bremen niedergelassen. Sie nutzt die Aula einer Gesamtschule als Proberaum und musiziert nun auch gemeinsam mit den Schülern.
Neue Töne an der Gesamtschule Ost.

Aaron: "Wenn alles zusammenpasst, dann klingt es auch gut, und dann macht es auch Spaß."

Hier spielt die Musik eine tragende Rolle.

Osan: "Weil es Spaß macht, wenn man mit Freunden spielt, zum Beispiel Filmmusik nachspielt, und dann Applaus bekommt, dann weiß man, dass man was gutes gemacht hat."

Aaron spielt Trompete, Osan die Tuba. Aarons Eltern stammen aus Ghana, Osans aus der Türkei. Beide sind in der 9. Klasse an der Bremer Gesamtschule Ost. Beide spielen im Schulorchester. Sie wollten unbedingt in die Musikklasse. Dazu mussten sie ihre Eltern erst einmal überzeugen.

Aaron:"Ich habe meine Mutter überredet, sie wollte, dass ich in eine normale Klasse komme, jetzt findet sie es gut, dass ich mit der Kammerphilharmonie auftrete."

Vor 2 Jahren begann die sonderbare Verwandlung der Gesamtschule Ost. Damals zog ein international renommiertes Orchester, die "Deutsche Kammerphilharmonie Bremen" in die Schule am östlichen Stadtrand von Bremen ein. Die Musiker, die in den großen Sälen der Welt spielen, in New York, Paris, London und Tokio, suchten neue Räume. Die Aula der Schule stand leer und wurde zum Konzertsaal umgebaut.

Die Musiker hatten den Mut, von der Innenstadt in ein Viertel zu ziehen, das als sozialer Brennpunkt gilt. Sie sahen es als Chance, an einen Ort zu gehen, an dem die Hochkultur nicht zuhause ist. Wo statt Verdi und Beethoven Arbeitslosigkeit und Hartz Vier den Ton angeben.

Seitdem hat sich hier viel verändert. Zu den Konzerten der Kammerphilharmonie kommen jetzt Besucher in den Stadtteil Osterholz-Tenever, die sonst niemals den Weg hierher gefunden hätten.

Aber die Musiker arbeiten auch mit den Schülern: Sie geben ihnen Unterricht, lassen Klassen an den Proben teilhaben.

Schülerin: "Man trifft die in der Mensa. Man begegnet denen auf der Treppe. Das ist cool, wenn man die Musiker hier trifft."

Das ungewöhnliche Experiment soll weit in die Zukunft wirken und deshalb hat Albert Schmitt, der Geschäftsführer der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, es wohl auch "Zukunftslabor" genannt.

"Die Naturwissenschaftler sagen, dass die größten Fortschritte erzielt werden, wenn Dinge zusammenstoßen, wenn mit der Reibung etwas gelingt, dann entsteht Kreativität. Wir haben das auf den sozialen Bereich übertragen, und sehen, dass da ein gewaltiges kreatives Potential ist."

Tenever: Eine Hochhaussiedlung mit 30 Meter hohen Fassaden. Die höchsten Wohnblocks haben 20 Stockwerke. 25 Prozent der Menschen, die hier leben, sind Aussiedler, und sogar 45 Prozent Ausländer: Türken, Kurden, Libanesen, Marokkaner, Vietnamesen. Das größte Problem ist die Armut: Fast die Hälfte der Bewohner ist auf Sozialleistungen angewiesen. Einer, der sich viel von der Zusammenarbeit zwischen Kammerphilharmonie und Schule verspricht, ist der Quartiersmanager Joachim Barloschky. In Bremen nennen sie ihn nur "Barlo".

"Es strahlt ja schon und das ist auch gut und darüber freuen wir uns. Dass unsere Kinder mit Hilfe der Musik näher rankommen. Da ist eine Aufwertung für den Stadtteil, der leidet an der Hartz- Vier- Dramatik und an der Arbeitssuche. Menschen, die einen Ausbildungsplatz für Kinder suchen und scheitern."

Klavierstück Duy

Duy: "Dieses Stück spiele ich nach Gefühl, ich spiele nicht gerne nach Noten. Ich habe das nach Gehör gespielt."

Duy ist 17 Jahre alt, seine Eltern kommen aus Vietnam. Er ist hier in Tenever aufgewachsen und wohnt in einem der Hochhäuser. Im 11. Stock.

"Gleich hier. Hier in Tenever. Vielleicht haben sie davon gehört: Ghetto: Tenever . Seit 16 Jahren wohne ich schon hier. Ich finde es cool, mit gefällt es hier."

Vor zwei Jahren fing er mit dem Klavierspielen an. Nicht nur, aber auch der Kontakt zu den Musikern der Kammerphilharmonie hat ihn zur Musik gebracht. Seine Eltern hatten diese Chance nicht.

"Mein Vater war Kriegsflüchtling, meine Mutter ist mit 20 Jahren ausgewandert. Sie kam nach Deutschland und fand keine Arbeit."

Duy will nicht nur Musik hören, sondern selbst Musik machen. Deswegen macht er auch bei einem besonderen Projekt der Kammerphilharmonie mit. Es heißt: "Melodie des Lebens"

Für die Revue "Melodie des Lebens" schreiben die Jugendlichen ihre Texte selbst. Über Themen aus ihrem Alltag. Wenn sie auftreten, dann werden sie von der Kammerphilharmonie begleitet. Die "Melodie des Lebens" enthält auch Songs des Musikers Mark Scheibe, der regelmäßig aus Berlin nach Bremen kommt und gemeinsam Lieder mit den Schülern komponiert und einstudiert. So wie mit der 13-jährigen Jana.

Lied: ""Immer mach ich alles falsch.""

"Die erste Strophe habe ich mit meiner Freundin zusammen geschrieben. Die zweite hab ich allein geschrieben."

Mark Scheibe greift in die Tasten. Jana muss sich auf einen Tisch stellen und lauter singen, denn ihre Stimme ist zu Beginn der Probestunde noch zögerlich. Am Ende klappt es besser.

"Natürlich ist man auch mal streng, heute war die Stunde gut, Mark Scheibe hat recht, dass ich mich bemühen muss. Dass ich lauter singe, auf jeden Fall. Also ich bin eigentlich ziemlich schüchtern."

Trotz Schüchternheit findet Jana es toll, bei der "Melodie des Lebens" mitzumachen. Sie steht im Mittelpunkt, singt und wird von Profis wie der Deutschen Kammerphilharmonie und Mark Scheibe am Flügel begleitet.

Mark Scheibe: "Das ist ein anspruchsvolles Stück, es ist sehr fragil. Diese Sequenz zum Beispiel" (Atmo Klavier)", das kommt auch durch diesen dissonanten Ton. Das ist ein Schmerz, den man lieben können muss."

Die "Melodie des Lebens" geht jetzt schon in die 6. Runde. Die nächste große Show wird Ende August sein. Albert Schmitt von der Deutschen Kammerphilharmonie findet, dass das ein gelungenes Projekt ist. Und er gerät jedes Mal ins Schwärmen, wenn er davon erzählt.
"Wenn man die über längeren Zeitraum mitverfolgt, ist es unglaublich, wie die Jugendlichen sich weiterentwickeln von Show zu Show, dass sie ihre Konsequenzen ziehen und sich entwickeln. Wir haben Beispiele von Kindern, die mit depressiven und hoffnungslosen Texten kamen und auf einmal kommen sie mit ganz neuen Themen und schreiben über Liebe. Das sind unglaubliche Ergebnisse, wir sind gespannt, wie es sich weiterentwickelt."

Das Experiment im Zukunftslabor tut der Schule gut tut, schwärmt auch Schulleiter Franz Jentschke. Wenn er durch die Flure seiner Schule geht, dann spürt er überall die Anwesenheit der Musik und ist ziemlich stolz.

"Ich denke, die Schüler lernen hier keine Mathematik und eine Vokabeln, sondern was wesentlich ist: Sich zu konzentrieren, im Team zu arbeiten, sich Dinge zu merken, hochprofessionell zu sein. Das ist eine Sache, die kann man im normalen Unterricht gar nicht lernen."

Das sieht man zum Beispiel an der Zahl der Anmeldungen. Immer mehr Eltern wollen ihre Kinder auf die Gesamtschule Ost schicken. Und das ist natürlich gut für den gesamten Stadtteil. Denn Tenever versucht vom schlechten Image wegzukommen.

Auch der Polizist Harald Schmitchen will nichts Schlechtes über Tenever sagen. Die Kriminalität ist gar nicht höher als anderswo. Probleme, klar gibt es die, aber früher, war es wirklich schlimm in Tenever.

"Ich kenne das alles seit 1977, als die Welt hier in Ordnung war, als es dann bergab ging mit Tenever, viele sozial schwache Menschen einzogen, in den 80,90ern. Es wurde kein Geld mehr rein gesteckt, nur noch die Mieten rausgezogen und die Zustände sich so verschlechtert haben, dass ein Wohnen nicht mehr möglich war."

Dann ging es wieder bergauf: Die verwahrloste Hochhaussiedlung wurde vor fünf Jahren für 70 Millionen Euro saniert. Wohnblöcke wurden abgerissen. Die düsteren Ecken sind jetzt zwar weg. Die Probleme sind aber immer noch da. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Sie liegt bei 20 Prozent. Lebenswege scheinen vorgezeichnet. Der einzige Ausweg heißt: Bildung. Die wichtigste Botschaft an die Jugendlichen lautet: Es gibt immer eine Alternative.

Wie sich das Zukunftslabor in einem gesamten Stadtteil ausbreitet, konnte man beim jüngsten spektakulären Projekt bestaunen. Goethes Faust, der Tragödie Zweiter Teil.

Faust 2 als Sprechoper, und zwar mit Originaltexten des deutschen Klassikers.
Die Idee: Profi-Musiker, Schauspieler und über 300 Schüler der Gesamtschule Ost erarbeiten gemeinsam die Oper. Ein schwieriges Stück. Ein Jahr lang wurde geprobt. Und dann Mitte Juni die Aufführung. Als Open-Air mitten zwischen den Hochhäusern von Tenever. Die Schüler mussten sich richtig durchbeißen, sagt die Berliner Regisseurin Julia Haebler. Anfangs schlug ihr viel Skepsis entgegen.

"Viele hatten eine abwartende Haltung, so: Die wollten was von uns. Viele haben sich geärgert, wenn der Sportunterricht ausgefallen ist. Dann haben Sie geschrien: Ich will zu meinem Sportunterricht gehen. Je nachdem welcher Unterricht ausgefallen ist, haben sie uns mehr geliebt oder mehr gehasst."

Auch die Begeisterung des 16jährigen Akin hielt sich in Grenzen. Zuerst jedenfalls.

"Dann denkst du warum machen die das, für eine guten Zweck oder was? Und dann ist dir klar, es ist ja für uns, für unsere Konzentration. Theater ist ja eine gute Sache, frühe waren Theater eher "in". Heute sind eher Festivals und Konzerte in."

Die komplette Handlung des Stücks kennt Akin zwar nicht. Er weiß nur, dass der Teufel eine Rolle spielt und irgendwie auch Krieg und Engel vorkommen. Das liegt an dem schwierigen Text, aber auch daran, dass jede Klasse nur eine Szene spielte. Die Berliner Regisseurin Julia Haebler weiß natürlich, dass Faust 2 kein leichter Stoff ist, vor allem für die Jüngeren. Doch es lohnt sich, sich anzustrengen. Das wollte sie den Schülern mit auf den Weg geben.

"Im Grunde lernen sie Mut und Selbstvertrauen, dass es Zweck hat, dass sie etwas leisten können. Viele Schüler wissen gar nicht, dass sie so etwas können."

Für die Rolle des Faust konnte der Schauspieler Dominique Horwitz gewonnen werden. Ihn interessierte das Projekt, dieses Zusammenspiel von Profis und Schülern.

"Wie die Menschen da leben und auch mit großer Lust, es ist ja nicht Bronx. Hier gibt es Menschen, die viele Initiativen haben und viel gestalten, ich habe es sehr genossen. Das Machen ist das Entscheidende, das ist das Projekt, worum es geht, ist die Anbindung des Viertels mit diesem Projekt. Das ist das Entscheidende."

Der Komponist Karsten Gundermann aus Dresden schrieb die Musik und verdichtete das lange Stück auf zwei Stunden. Es geht in den Szenen um Macht, Schuld, Sehnsucht, den Sinn des Lebens. Wir müssen die Klassiker wiederentdecken, verlangt Karsten Gundermann. Denn es steckt einfach alles drin. Man muss es den Schülern nur zeigen.

"Goethe hat gesagt, alle guten Gedanken sind schon einmal gedacht worden. Es kommt darauf an, sie erneut zu denken. Diesen Vorgang möchten wir in Bremen Tenever gerne in Gang setzen. Wenn man Bildung trainiert, wenn sie sich für ihre Geschichte interessieren, dann werden sie sich auch für ihre Zukunft interessiert. Wenn die Schüler in ihren Stadtteil entlassen werden, dann wird es dem Stadtteil wesentlich besser gehen".

Die Musik entsprach zwar nicht so sehr seinem Geschmack. Sagt zum Beispiel der 16jährigen Akin.

"Nicht mein Geschmack. Manchmal hört es sich an wie ein Ohrentest."

Aber alles in allem ist er froh, dass er dabei gewesen ist.

"Ich fand es super, es war eine Lebenserfahrung, es hat uns viel Selbstbewusstsein beigebracht, allen Schülern glaube ich. Mit den Schauspielern zusammenzuarbeiten war ne große Ehre."

Akin ist offensichtlich sehr stolz auf sich. Er erzählt, der Schauspieler Dominique Horwitz habe ihn dazu ermahnt, das Feuer nicht ausgehen zu lassen. Akin will jetzt unbedingt auf eine Schauspielschule. Das Feuer ist entzündet. Das Publikum. Der Applaus. All das.

Das war nicht immer so. Für das Faust-Projekt musste die Regisseurin viele Widerstände überwinden. Immer wieder fiel der Unterricht aus, worüber sich die Schüler beklagten. Zwischendurch waren alle ermüdet. Die Aufführung war noch so weit weg. Aber dann, kurz vor der Premiere, kam die Begeisterung zurück.

Auch Peter Lüttmann hat das miterlebt. Er ist Deutschlehrer. Aber an der GSO, der Gesamtschule Ost ist es unmöglich, nur sein eigenes Fach durchzuziehen. Immer spielt Musik eine Rolle. Lüttmann hat sich sogar ein größeres Auto gekauft, damit er seine Schüler mit ihren Instrumenten zu Konzerten und Proben bringen kann.

"Diese Begeisterung hätten die Kinder in der Musikklasse nicht gehabt, wenn sie nicht mit den Profis in Kontakt gekommen wären. Sie haben eine Idee, was ist gut, was ist nicht so gut. Und sie sehen an den Musikern, das ist wirklich Spitzenklasse und da kommt dann auch die Begeisterung her."

In der Mensa begegnen sich Schüler und Orchestermusiker. Sie proben zusammen.
Jetzt kommt viel Publikum in die Schule. Das gab es früher nicht. Die Schule hat sich nach außen geöffnet. Sie zeigt, was sie hat. Und immer wenn der Stardirigent der Kammerphilharmonie Paavo Järvi im Haus ist, dann weht an der Schule die Flagge seiner Heimat Estland.

Für die Kammerphilharmonie ist die Kooperation aber keineswegs Sozialarbeit. Die Musiker wollen sich weiterentwickeln, indem sie sich auf Neues einlassen, das eigene künstlerische Schaffen aus fremden Blickwinkeln betrachten.

"Durch eine gewisse Erdung bekommt man hin, dass sich die Einstellung des einen oder anderen Musikers zum Publikum neu sortiert, und das hat für uns einen positiven Effekt."

Vielstimmig wie das Leben, Frust und Freude. Die Melodie des Lebens. Die Schüler rappen, singen, zeigen auf der Bühne, was sie drauf haben.
Wenn die Schüler gemeinsam mit der Deutschen Kammerphilharmonie auftreten, dann können ihnen viele Menschen dabei zusehen, wie sie über sich selbst hinauswachsen.