Ein neuer alter Mark Twain

13.03.2012
Die Bücher "Tom Sawyer" und "Huckleberry Finn" sind unvergessene Klassiker der Jugendliteratur. Weniger bekannt ist, dass Mark Twain noch andere Geschichten über die beiden Abenteurer Tom und Huck geschrieben hat. Eine davon ist nun beim Hanser-Verlag erschienen.
"Tom Sawyers Ballonfahrt", im Originaltitel "Tom Sawyer abroad", entstand 1892 im hessischen Bad Nauheim. Eigentlich plante Twain eine ganze Serie mit Toms, Hucks und Jims Abenteuern im Ausland. Dass die nicht zustande kam, lag vor allem an einem saftigen Streit mit der bigotten Herausgeberin.

Vorbild für "Tom Sawyers abenteuerliche Ballonfahrt" ist Jules Vernes Roman "Fünf Wochen im Ballon". Die Parallelen zu Vernes Roman, was Handlung und Charaktere betrifft, sind erstaunlich - oder auch bedenklich. Doch trotzdem ist der Roman ein typischer Twain: Sein Ton, sein Witz und auch die episodenhafte Handlungsstruktur sind eindeutig die Markenzeichen des großen Erzählers.

Tom, Huck und Jim starten völlig unverhofft mit einem verrückten Erfinder in dessen Fesselballon in die Lüfte. Das Gerät ist kinderleicht zu steuern, und als der böse Alte aus der Gondel fällt, fliegen die drei weiter Richtung London. Sie überqueren den Atlantik, landen in der Sahara, kämpfen mit Löwen und Tigern, erleben einen Sandsturm, eine Fata Morgana und vieles mehr und erreichen schließlich Kairo und die Pyramiden. Von hier aus geht es zurück nach Hause.

Twains Protagonisten erleben nicht nur eine Menge, sie lernen noch viel mehr. Jedenfalls Huck, der bodenständige und pfiffige Ich-Erzähler, und Jim, der alte "Nigger". Denn Tom lässt keine Gelegenheit aus, sie zu belehren. Über Astronomie und die Zeitzonen auf der Erde, über Flöhe und die Pyramiden. Toms besserwisserische Vorträge sind allerdings ironisch gebrochen, werden durch Übertreibungen oft ad absurdum geführt und durch die folgenden Diskussionen auf witzige Weise konterkariert. In diesen Ballon-Szenen sind Twain und sein schnoddrig-liebenswerter Ich-Erzähler Huck at their best: schlagfertig, urkomisch und humorvoll.

Trotzdem wird "Tom Sawyers abenteuerliche Ballonfahrt" Kinder von heute, deren Romanhelden in Anderswelten und Raumfähren unterwegs sind, nicht unbedingt vom Hocker reißen. Denn Mark Twain drückt sich konsequent um die spannende Ausgestaltung der abenteuerlichen Reise. Mehr als die Hälfte des Romans spielt im sicheren Ballonkorb, die Gefahren außerhalb werden häufig von oben - aus der Distanz - beobachtet. Wirklich gefährliche Situationen sind unspektakulär und ohne Dramatik abgehandelt, was gerade darum schade ist, weil wir es nicht mit einem realistischen, sondern einem fantastischen Text zu tun haben. Vielleicht darum, weil Twain den Roman ausdrücklich für Kinder geschrieben hat.

"Die Freiheit und die Sehnsucht nach Freiheit" sei der innerste Kern des Romans, schreibt der Übersetzer Andreas Nohl in seinem interessanten Nachwort. Diese Freiheit wirkt ein wenig brav und angestaubt. Was umgekehrt wieder jene Qualitäten des Textes in den Vordergrund rückt, die erwachsene Leser schätzen werden: seine Hintergründigkeit, seinen Sprachwitz und seine doppelbödigen Exkurse zu Philosophie und Moral. Den alten Twain eben, der auch hier, vielleicht ohne es zu wollen, für beide schrieb: für Kinder und Erwachsene.

Besprochen von Sylvia Schwab

Mark Twain: Tom Sawyers abenteuerliche Ballonfahrt. Erzählt von Huck Finn.
Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Andreas Nohl
Carl Hanser Verlag, München 2012
160 Seiten, 12,80 Euro
ab 11 Jahren
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