Ein Murmeln mit Geistern

13.09.2013
In Hendrik Rosts überwiegend szenischen Gedichten ploppt der Alltag auf. So geht es etwa um die Besichtigung einer Wohnung und ihre unheimliche Leere, die Kündigung einer Kreditkarte oder einen philosophischen Dialog mit der vierjährigen Tochter. Die Stimmen der Vergangenheit schwingen dabei mit.
Literatur führt immer Geistergespräche. Sie erhört die Stimmen der Vergangenheit, lauscht dem Kommenden seine Geheimnisse ab und gibt allem im Hier und Jetzt eine Gestalt. Der 1969 geborene Lyriker Hendrik Rost versteht unter Schreiben sogar ausdrücklich ein Totengespräch. "Ad plures ire" - zu den Vielen gehen - hat er einmal ein Gedicht betitelt und die lateinische Wendung, mit der die Römer das Sterben umschrieben, zum Prinzip der Poesie schlechthin erklärt. Jeder Vers fügt sich für ihn in "ein Dauermurmeln, das plötzlich an unvermuteter Stelle neu ansetzt".

Dazu gehört, dass ihm auch die Idee des Zu-den-Vielen-Gehens erst durch Walter Benjamin zugewachsen ist. Und dazu gehört, dass "Ad plures ire" ein den Tod beschwörendes Motto des Russen Ossip Mandelstam trägt. Doch Hendrik Rosts Gedichte waren nie schwer und schwarz, sondern bei allen Melancholien immer licht und transparent. Sie waren überdies stets voraussetzungslos zugänglich. Das gilt auch für seinen sechsten Lyrikband "Licht für andere Augen", der in drei Abteilungen 66 Gedichte enthält und ihn auf der Höhe seines über die Jahre erworbenen Könnens zeigt. Wo er früher auf den Schultern literarischer Riesen gelegentlich über Prätentiöses stolperte, da geht er heute durchweg elegant - und auf Zehenspitzen.

Aufgewachsen zwischen Ems und Ruhr, studierte Rost in Kiel Literatur und Philosophie und debütierte 1995 mit dem Gedichtband "vorläufige gegenwart". Vor genau zehn Jahren war er Teil der 74-köpfigen Autorenschaft, die mit der Anthologie "Lyrik von jetzt" so etwas wie das Gründungsmanifest einer neuen Generation deutscher Dichter formulierte. Von den losen Gruppen, die daraus entstanden, hat er sich allerdings stets ferngehalten, und vor den Verschlingungskräften des Gravitationszentrums Berlin bewahrt ihn die Randlage von Lübeck, wo er heute mit seiner Familie lebt.
Aus dem Alltag stammt auch der Stoff, aus dem seine Gedichte sind - wenn das für die Augenblickskonstellationen und die Spannungen, die in ihnen wirken, nicht ein viel zu großes Wort wäre. Die Besichtigung einer Wohnung und ihrer unheimlichen Leere. Ein Spaziergang in der Lübecker Bucht. Die Kündigung einer Kreditkarte. Ein philosophischer Dialog mit der vierjährigen Tochter. Eine "Notiz an das Neugeborene". Eine Reise nach Paris. In Rosts überwiegend narrativen oder szenischen Gedichten - allesamt ungereimt in freiem Vers - wohnt ein stets erkennbares Ich, Du und Wir. Andere Texte entwerfen Stillleben oder entfalten Gedankliches - alles jedoch stets im Bewusstsein von Ahnen. Und so verneigt sich Rost mit Motti und Variationen unter anderem vor Nicolas Born, Thomas Kling, Rolf Dieter Brinkmann, Inger Christensen und Henrik Walbrandt.

Ein besonders glückliches Beispiel seiner Kunst, das Poetologische mit dem Alltäglichen zu verbinden, ist das Eröffnungsgedicht: ein Liebesgedicht mit dem Titel "Und Maus". "Seit wir eine unsichtbare Katze / haben, ist nichts mehr, wie es war", beginnt es und erfindet im Herumschleichen des imaginären Tiers ein wunderbares Bild für die Zuneigungsenergien, die in diesem Wir beständig fließen.

Das Wort Gott kommt übrigens viermal vor, doch Rosts Dichtung bleibt zutiefst weltlich. Sie beherzigt das alte Wort des von ihm verehrten William Carlos Williams "no ideas but in things: Vergesst die Luftschlösser der Metaphysik, hier auf Erden richten wir uns ein".

Besprochen von Gregor Dotzauer

Hendrik Rost: Licht für andere Augen
Gedichte
Wallstein Verlag, Göttingen 2013
80 Seiten, 16,90 Euro