Ein Mensch zerfällt, sein Kind schaut zu

06.05.2013
"Das große Durcheinander" wurde als erste Graphic Novel überhaupt für einen kanadischen Sachbuchpreis nominiert. Sarah Leavitt erzählt in diesem Comic von der fortschreitenden Alzheimer-Erkrankung ihrer Mutter. Ihre kindlich wirkenden Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind erschütternd realistisch und voll emotionaler Wucht.
In einem schwachen Moment spricht Debbie Klartext: "Arme Miriam. Es wird ihr noch leidtun, sich nicht das Leben genommen zu haben, solange sie´s gekonnt hätte." Miriam ist Debbies Schwester, die mit 52 Jahren erste Symptome von Alzheimer zeigt. Die Krankheit wirft die ganze Familie aus der Bahn: Miriam, ihren Mann Robert, ihre Schwestern Debbie und Sukey, ihre Kinder Hannah und Sarah – sie alle werden Zeugen davon, wie sich Miriams Identität erst nur leicht verändert, dann zersetzt und schließlich auflöst.

Die Diagnose Alzheimer gehört zu den größtmöglichen Katastrophen in einer Gesellschaft, in der Individualität, Selbstbestimmung und persönliche Freiheit als Leitwerte angesehen werden. Die Graphic Novel "Das große Durcheinander" der kanadischen Autorin und Zeichnerin Sarah Leavitt schildert mit unglaublicher Offenheit und verzweifelter Liebe, was es heißt, wenn ein Familienmitglied allmählich verschwindet.

Sechs Jahre lang hat Sarah Leavitt Notizen, Zeichnungen und Erinnerungen von ihrer Mutter gesammelt, in denen sie deren fortschreitende Erkrankung festgehalten hat. Das Ergebnis ist ein autobiografisches "Graphic Memoir", das in drei Kapiteln die Geschichte Miriams nachzeichnet: Von den glücklichen Tagen, als sie ihren Mann Robert an der Harvard Universität kennenlernt und als engagierte Lehrerin Karriere macht, über die verrückten, traurigen, aber auch schönen Momente als die Diagnose sie zur Alzheimer-Patientin macht bis hin zu ihrem Tod und den Strategien der Familienmitglieder, damit umzugehen.

Geschildert wird dies aus der Perspektive der Tochter Sarah, die in größtmöglicher Entfernung zum Elternhaus an der Westküste Kanadas studiert und dort ihr lesbisches Coming-out erlebt. Als ihre Mutter zum Pflegefall wird, muss sie sich abrupt von ihrer Tochterrolle emanzipieren.

Sarah Leavitt erzählt die Geschichte ihrer Mutter mit sparsamen Texten und Schwarz-Weiß-Bildern, die oft wie Kinderzeichnungen wirken. Der Feuilletonpapst der FAZ, Andreas Platthaus, kritisierte ihre schlichten Momentaufnahmen als wenig eindrucksvoll und Sarah Leavitts Arbeit als Comiczeichnerin "eine Fehlbesetzung". Doch stimmt das wirklich? Oder sind es gerade die kindlich-naiven Zeichnungen, die die emotionale Wucht der Erzählung erträglich machen, die etwas Leichtigkeit in eine Geschichte bringen, die vom Verlust der elementaren Würde und der persönlichen Identität handelt?

Ein Beispiel: Mit wenigen Strichen zeigt Leavitt ihre Mutter in der Badewanne. Dazu heißt es: "Mamas Kleidung lag auf dem Boden. Die Unterwäsche war voll von getrocknetem Kot. Im Badewasser schwammen Schwebeteile, sie tauchte den Waschlappen hinein. Sie konnte nicht riechen, aber sie konnte doch sehen. Sie erkannte es einfach nicht. Sie wusste nicht, was Kot, Schmutz, was Scham war. Auflösung."

Sarah Leavitts Skizzen deuten die erschütternden Veränderungen ihrer Mutter bloß an, statt sie dramatisch in Szene zu setzen – das macht sie eindrücklicher als jedes durchdesignte Hochglanzbuch. Und es ermöglicht den Lesern, die bitteren Konsequenzen der Krankheit nachzuvollziehen, Schritt für Schritt. Völlig zu Recht wurde "Das große Durcheinander" als erste Graphic Novel überhaupt für einen kanadischen Sachbuchpreis nominiert. Ein mutiges, entwaffnend ehrliches Buch über die Volkskrankheit Alzheimer, dessen Tragikomik bis ins Mark erschüttert.

Rezensiert von Tabea Grzeszyk

Sarah Leavitt: Das große Durcheinander - Alzheimer, meine Mutter und ich
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andreas Nohl
Beltz Verlag, Weinheim 2013
128 Seiten, 19,95 Euro