Ein Mann, ein Wort, eine Molle, ein Korn

100 Jahre Berliner Kneipengespräche

Ein Schankwirt an einem Bierzapfhahn
Kneipengespräche - gibt es sie noch? © Paul Zinken
Von Ralf Bei der Kellen · 28.04.2016
Molle und Korn und das Kneipengespräch kann losgehen. Die Eckkneipe ist seit Jahrzehnten das Wohnzimmer der Berliner. Hier wurden Beziehungsprobleme gewälzt, Revolutionen analysiert - und das bis heute. Oder etwa doch nicht?
"Es war Freitagabend, ich saß allein in meiner Stammkneipe in Berlin-Friedrichshain – meine Verabredung hatte mich versetzt...."
Was klingt wie der Anfang eines dieser typischen Hauptstadt-Romane a la "Herr Lehmann" – für den Autor dieser Zeilen war es vor ein paar Wochen die bittere Wahrheit. Aber man ist ja Journalist. Und was macht der, wenn er alleine in der Kneipe sitzt?
"Er beobachtet sein Umfeld."
Gegenüber an einem Zweiertisch – ein Pärchen um die 20. Beide starren auf ihre Smartphones, Daumen huschen über die Displays. Plötzlich der Gedanke: Sind die etwa zusammen da – und schreiben sich gegenseitig? Ist das die neue Form des Kneipengesprächs?
"Naja, die beiden um die 20, Du 45, da liegt ja auch eine ganze Generation dazwischen!"
Na schönen Dank auch…
"Is’ ja schon gut…"
Also: sollte das etwa eine neue Kulturtechnik sein? Oder traf hier das Zitat eines prominenten Kneipengängers mit Namen Erich Kästner zu?
"Einsam bist Du sehr alleine – und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit."
Vielleicht müsste man wieder öfter in Kneipen gehen – auch da hilft Kästner:
"Toren besuchen im fremden Land die Museen, Weise gehen in die Tavernen."
Und davon gab es in Berlin in den letzten 100 Jahren ja genug. Also Toren, Weise und eben – Kneipen.
Walter Gross aus: Kneipen im Wandel der Zeit (von Jule Hammer)
"Und die letzte Runde in der Budike, morjens um sechs
Prost August, ex!
Und denn, so zu der Milchwagenmusik von Meester Bolle
die Abschiedmolle."
Für Künstler war sie die Muse, Spione spannten ihre Lauscher auf – und auch Geschichte wurde hier geschrieben: in der Berliner Kneipe, der Budike, der Destille. Ein Mann, ein Wort – eene Molle, een Korn.
"Frohe Arbeit, ernster Wille, mal nen Schluck in der Destille, und een bisken killekille, det hält munter – Heinrich Zille."
Clemens Füsers: "Als Heinrich Zille noch Druckerlehrling war, musste er mal morgens für seinen Chef nen Krug Bier holen gehen. Und dann sah er, wie auf dem nackten Hintern einer Betrunkenen Hure zwei Arbeiter Skat droschen. Und das war wohl ein Bild, das ihn geprägt hat – und damit hatte er wohl auch sein Lebensthema gefunden."
Clemens Füsers hat zwei Bücher über Berliner Kneipen geschrieben – die er selbstredend alle besucht hat. Der Mann ist also vom Fach.
A propos Muse. Die Legende will auch, das eines feuchten Abends Heinrich Zille mit seinen Freunden, dem Texter Hermann Frey und dem Komponisten Walter Kollo in der Kneipe "Zum Nussbaum" saß. Als der Pianist des Etablissements namens August schwer betankt nach Hause wollte, ermahnte man ihn, er möge sich festhalten, worauf er entgegnete:
"Keen Problem, ick jeh – immer anner Wand lang."
Und so entstand – möglicherweise, oder besser: schönerweise – aus einem geselligen Kneipenabend einer der ersten Berliner Kneipen-Schlager.
Walter Groß:
"Wenn ick in meine Kneipe jehe
trink ick 'ne Molle und ’n Korn.
Und wenn ick anner Theke stehe,
jleich det janze gleich nochma von vorn.
Und noch’n Körnchen und noch ne Molle
und noch ne Molle und noch’n Korn.
So amüsier ick mir wie Bolle –
und scheen jemütlich, nich im Zorn."
Das mit dem Zorn war aber nicht immer ganz einfach, denn – die Kneipe war stets auch ein Ort, an dem Politik besprochen und auch gemacht wurde. In Berlin zum Beispiel in dem 1820 gegründeten Cafe Stehely in der Nähe der Humbold Universität.
Füsers: "Dort trafen sich republikanisch gesinnte Studenten in einem Hinterzimmer regelmäßig, und dieses Hinterzimmer hatte rote Tapeten. Und deshalb steht die Farbe rot heute noch für eine linke Gesinnung. Das kommt aus diesem Hinterzimmer."
Zum roten Tuch wurde die Kneipe für die Monarchie. Ab 1878 gab es die "Sozialistengesetze", die es Sozialdemokraten verboten, sich zu versammeln. Oft fanden solche Aktivitäten daher unter dem Deckmantel des Kneipenbesuchs statt. Das Treffen in Kneipen hatte aber auch ganz handfeste Gründe:
Füsers: "Es war für die Arbeiter kaum möglich, sich in ihren eigenen Wänden aufzuhalten. Also: eigene Wände stimmt ja schon mal nicht, wenn man sich diese alten Mietskasernen vorstellt: dritter, vierter, fünfter Hinterhof, da hausten acht- bis zehnköpfige Familien in einem Souterrainzimmer, da roch es nach schmutziger Wäsche, nach Windeln, nach billiger Kohlsuppe, es war feucht, es war stickig, die Kinder schrien, und manchmal lag noch ein fremder Untermieter im Bett – es gab quasi kein Wohnzimmer, keinen Ort, wo man sich aufhalten konnte als eben in der Eckkneipe. Und das war nicht mal ein verlängertes, sondern es war da richtige Wohnzimmer. Es war die einzige Möglichkeit, sich nach Feierabend irgendwo hinzusetzen."

Die Eckneipie im Visier des Staates

Und in diesem Wohnzimmer vermutete der Staat Keimzellen der Gefahr – und schickte die geheime politische Polizei, die als Handwerker oder Arbeiter getarnt in die Kneipen ging, um die Meinung der Gäste und bevorstehende Aktionen auszuspionieren. Auch die Kirche schickte ihre Undercoverseelen – allerdings, um auszuloten, wen man wo und wie am besten missionierten konnte.
Nach Agenten sahen meine beiden Gegenüber allerdings nicht aus… aber auch immer noch nicht nach Gespräch…
Eine soziale Durchmischung gab es in dieser Zeit kaum. Jede Schicht hatte ihre eigene Kneipe – was sich oft im Namen äußerte:
Clemens Füsers: "Also, da gab es früher zum Beispiel die "Akademischen Bierhallen" am Hegelplatz, das war eben tatsächlich nur für Akademiker. Und noch früher gab’s Gasthäuser für die höheren Stände. Und da war völlig klar – da haben Arbeiter nichts zu suchen."
In den späten 20er-Jahren etablierte sich dann zunehmend eine Aufspaltung in linke und rechte Kneipen.
"Das hat’s hundertfach gegeben. In den Akten gibt es eine Liste von den verschiedenen politischen Farben der Kneipen. Und das ist dann wirklich Seitenweise und auch wirklich – ein paar Hausnummern weiter ist die eine Kneipe der einen Fraktion und die andere der anderen. Und es ist klar, was dann freitags abends passiert."
Erklärt Dr. Christoph Kreutzmüller, Kurator im Jüdischen Museum Berlin, der lange zum Thema "Trinker in Berlin 1918 – 1938" recherchiert hat.
Berlin Alexanderplatz:
"Dann wird mit einem Mal die Unterhaltung am Nebentisch laut. Der eine Neue führt das große Wort, der will singen. Dem ist es hier zu ruhig, ein Klavierspieler ist auch nicht da. Henschke ruft rüber: Für wen denn? Das wirft das Geschäft nicht ab. Was sie singen wollen, weiß Franz schon. Entweder die ´Internationale` oder ´Brüder, zum Lichte zur Freiheit`. Falls se nicht wat Neues haben."
In Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz geht Franz Biberkopf Anfang 1928 in seine Stammkneipe, wo er den Wirt Henschke im Gespräch mit zwei jungen Kommunisten antrifft. Als diese Franz zum Singen animieren, schmettert der "Ich hat’ einen Kameraden" – und dann "Die Wacht am Rhein", fatalerweise. Denn es handelt sich hier wahrscheinlich um eine Budieke – und die waren traditionellerweise links.

Kreutzmüller: "Das ist ne sehr realistische Szene. Da macht sozusagen der Biberkopf einen Fehler. Weil so ein nationales Lied in der Budieke zu singen ist einfach ein grober Fehler. Da hätte er zu den Nationalsozialisten gehen müssen, dann hätte er vielleicht ein Freibier bekommen."
Berlin Alexanderplatz:
"Henschke, natürlich, gibt so viele Lokale in Berlin. Ich hab bloß auf Lina gewartet. Stehen se aber bloßn die bei? Warum drängene de einen raus? Wo ich jeden Tag hier sitze und die beiden Neuen heute zum ersten Mal da sind. Der Wirt hat den Langen zurückgedrängelt, der andere Neue spuckt aus. ´Weil de’n Faschiste bist! Du hast de Binde inner Tasche, Hakenkreuzler bist Du!`"

Kneipenspitzel gab es nicht nur in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik – auch nach der Machtergreifung durch die Nazis wurde eifrig mitgehört und protokolliert.
Berlin Mitte, Alexander Platz
Der Alexanderplatz in Berlin-Mitte 1935.© imago/Arkivi
Kreutzmüller: "Ab 33, 34 ist noch wenig. Aber ab 35 wird dann sehr viel angezeigt, verraten – da greift das Spitzelwesen immer weiter zu."
In der Kneipe glaubt man sich an einem intimen, familiären Ort. Der Alkohol lockert die Zunge. Christoph Kreutzmüller hat in alten Akten im Berliner Landesarchiv recherchiert.
Kreutzmüller: "Also, da gibt’s einmal den Bericht des 121. Polizeireviers vom 26. November 1938, zwei Wochen nach den Novemberpogromen, die ja in Berlin drei Tage dauerten. Und da sagt ein Herr Gernhuber im Bierlokal relativ spät nachts etwas, was nicht ganz jugendfrei ist und relativ drastisch, aber was dann zu den Akten genommen wird."
"Adolf Hitler ist ein Lump, ein Puppenjunge und ein Arschf...."
Kreutzmüller: "Ein jüdischer Händler, der mit Heftpflastern handelt in der Köpenicker Strasse 29 inner Kneipe, der kommt aus Dresden und sagt im Februar 1938, dass er – und jetzt zitiere ich wieder – mit Adolf Hitler in einem Regiment gedient habe. Und dann volles Zitat: ´Ich kann machen, was ich will. Ich bin der letzte Jude. Doktor Goebbels kann mir im Marje lecken.`"
Also am A-. In dieser Zeit besitzt Berlin die wahrscheinlich höchste Kneipendichte in Europa. Kneipenexperte Clemens Füsers:

"Ich hab eine Statistik aus den frühen 30er-Jahren, da ist von 30.000 lizenzierten Lokalen die Rede. Und dann kann man sich eben vorstellen, dass es eben auch noch viele nicht-lizensierte gab. Man hat ja früher so den Spruch gebracht: In Berlin hat jede Kreuzung fünf Kneipen. Und statistisch gesehen kam um diese Zeit auf etwas über 100 Einwohner eine Kneipe."
Und immer noch kein Gespräch am Tisch gegenüber… von Funkstille kann allerdings nicht die Rede sein…

Kneipen nach dem Krieg

Zur früheren Kneipendichte kommt man nach dem Krieg nicht mehr zurück. Den Grund dafür erklärte der damalige Berliner SPD Bausenator Harry Ristock 1980 so:
"Es gab eine Zeit, wo unsere Bürger, als die neuen Wohnungen – wir haben ja 525.000 nach dem Kriege gebaut – dass unsere Bürger – vor allen Dingen auch in der Verbindung mit der Mattscheibe – sich aus der Kneipe zurückzogen und ihre Gemütlichkeit also in den vier Wänden, äh, suchten."
Die drei Travellers – Neubau-Swing:
"Seit Jahren wohnte ich bei Witwe Kraus
in einem 100 Jahre alten Haus
doch endlich kaufte ich vom Vater Staat
ne Neubauwohnung drei mal zehn Quadrat
Und gestern zog ich ein mitsamt Klavier
doch leider ging das Ding nicht durch die Tür…"
Füsers: "Es gibt nichts, worüber in Kneipen nicht gesprochen wird, also: da gibt es keine Tabus."
Das bleibt so – auch im Kalten Krieg. Gespitzelt und verraten wird auch hier wieder. Kneipen sind Agententreffpunkte, hier werden Informanten angeworben oder Informationen mit Alkohol extrahiert – in West wie in Ost.
Prozessmitschnitt Gerhard Beck:
"…und dort trafen wir uns vorher und sind dann reingegangen in die Straßenbahn und fuhren zum… Bayrischen Platz war’s wohl, in diese Ratsstuben im Schöneberger Rathaus. Dort sagte er mir, ich solle doch mal nen Moment warten, er wollte jemanden anrufen."
Clemens Füsers: "Natürlich gingen die Studenten ab Mitte der 60er-Jahre vermehrt in die Arbeiterkneipen die eben zum großen Teil auch den Namen ´Budieke` in sich trugen, um dort mit den Arbeitern zusammen den Klassenkampf voranzubringen. Das hat ja meistens nicht geklappt. In Berlin, sagt man ja, hat die 68er-Generation vor allem eines hervorgebracht: zu allem entschlossene Wirte."

In den späten 1960er-Jahren wird in West-Berliner Kneipen so manche revolutionäre Aktion geplant – und die meisten gleich wieder im Alkohol ertränkt. Eine der Stammkneipen der Studenten war Wilhelm Höck in der Wilmersdorfer Straße in Charlottenburg.
Füsers: "Und Rudi Dutschke war dort übrigens Stammgast. Und weil damals ja auch noch der höhere Blödsinn sehr beliebt war bei den Studenten, haben die oft Tee bestellt und die Teebeutel an die Decke geklatscht. Und der blieb da natürlich erstmal hängen. Und die Legende besagt, dass da noch ein einziger Teebeutel an der Decke klebt, und der soll von Rudi Dutschke sein."
Ton Steine Scherben – Wir müssen hier raus!:
"Mein Alter meint, die Welt würd’ sich nicht ändern
dabei weiß er ganz genau, was läuft
doch er glaubt, er vergisst die ganze Scheiße
wenn er abends in der Kneipe hängt und säuft…"
Füsers: "Es ist auch noch gar nicht so lange her, dass Arbeiter langhaarige Studenten aus ihren Kneipen rausgeprügelt haben, da kenne ich noch viele Zeitzeugen, die das mitgemacht haben. Das war halt ein netter Versuch, aber er hat eben so nicht geklappt, wie die Studenten sich das damals vorgestellt haben."
Ton Steine Scherben – Wir müssen hier raus!:
"Er sagt: ´Der schönste Platz ist immer an der Theke
Da hat er Recht – zu Haus ist kaum noch Platz für drei
Deshalb bin ich auch den ganzen Tag auf Arbeit
man kann sagen, ich bin so frei…"
Auch die Wohnungsnot in West- wie Ost-Berlin trägt dazu bei, dass die Kneipen voll sind.
Füsers: "Also Generationen von Studenten, ich gehör ja auch noch dazu, haben sich in den Kneipen aufgewärmt. Und da ganze Tage auf ne Cola oder nen Bier da verbracht und haben an ihrer Seminararbeit geschrieben. Weil sie zuhause irgendwie das nicht machen konnten, es war zu kalt oder sie hatten kein Geld für Kohlen zu kaufen oder der Ofen war zu klein, um das Zimmer zu heizen, also ich kann das noch sehr gut, das ging bis in die späten 80er-Jahre so."
Hmm… vielleicht sind die beiden am Nebentisch ja auch Studenten? Schreibt man heute seine Seminararbeiten gleich ins Smartphone? Copy and Paste geht da ja auch…
In den frühen 80ern besann man sich in West-Berlin plötzlich auf die Eckkneipe als geschichtsträchtigen Ort – und erklärte diese zum Kulturerbe. Bausenator Harry Ristock 1980 in einem Interview:
Interviewer: "Was tut Berlin eigentlich für seine Kneipen und sind die Kneipen in Berlin heute noch das, was sie mal waren?"
Ristock: "Also ich würde – sicherlich in Übereinstimmung mit Herrn Lummer in diesem Falle – sagen: Sie werden wieder das. Wir haben in den großen Neubaugebieten viel zu wenig dieser herrlichen Kneipen gebaut oder befördert oder bezuschusst, subventioniert. Das ist schade, wir fangen jetzt an, bei unserer neuen Art von Stadtsanierung, Stadtreparatur, behutsam in jedem Fall die Kneipe, auch den Tante Emma-Laden, drinzubehalten."

Das Kneipensterben aufgehalten hat man damit nicht – und "behutsam" handelte man auch nicht grade. Dafür entstanden hier und da plötzlich neue Altberliner Kneipen.
Berlin 
Eckkneipe in Berlin-Neukölln© imago/Müller-Stauffenberg
RIAS "Kutte kennt sich aus":
"Det is ebent hier in der von Ihnen schon apostrophierten Alt-Berliner Kneipe – die natürlich jar nich so alt ist, aber det is ja det Kneipenschicksal, die is eben mit Hilfe von alten Erinnerungsstücken uff alt getrimmt."
Und befand sich in der Rankestraße und hieß einfach "Die Kneipe". Als der Berliner Heimatforscher Kurt Pomplum und Moderator Horst Kintscher diese besuchten, gehörte sie…
RIAS "Kutte kennt sich aus":
"Wolfgang Gruner. Tach Wolfgang."
"Tach."
"Na, nun macht ma doch nich so lange, Menschenskinder, die Eier wer’n ja warm, wat wollter denn nu haben, nen ritijet Bier oder ne Weiße mit Schuss oder ne Strippe oder irjendsowat, watsollickbrigen?"
Wolfgang Gruner, Rampensau des Berliner Kabaretts "Die Stachelschweine", war in den 70er-Jahren im Nebenberuf Kneipenwirt. Und vielleicht hörte er sich hier die Dialoge ab, die er später im Kabarett brachte. Überhaupt hatte das Kneipengespräch ja Tradition im Kabarett:
Bruno Fritz: "Soooo, ähhh… diesen trinken wer abba noch…"
Ekkehard Fritsch: "Ja, ick habe ja schon det neunte. Weisse, so wat kann leicht zur Jewohnheit wern…"
Fritz: "Det is ja Quatsch, Mensch… ick trinke seit dreißig Jahren jeden Ahmt mein Quantum, aber von Jewohnheit ha’ck noch nischt jemerkt."
Bruno Fritz und Ekkehard Fritsch. Letzterer etablierte in den 1950er-Jahren mit der Figur des Hugo Knallmeier den Berliner Kneipengänger par excellence.
Buchholz: "Also, meine letzte Stammkneipe war der Jonas im roten Dreieck von Schöneberg – das war auch sonne frühere linke Kneipe, die heute noch von so’m Kollektiv- da waren ne ganze Menge, zumindest vier kenn ick, Schriftsteller – die allerdings nicht so richtig zum Schriftstellern kamen, weil sie immer vor der Entscheidung standen: entweder Saufen oder Schreiben."
Martin Buchholz, geboren 1942 im Berliner Bezirk Wedding, Berliner Kabaretturgestein und – eifriger Kneipengänger.
"Und dann hat sich herausgestellt, dass Saufen sehr viel schneller ging als Schreiben. Und ab und zu haben sie dann mal ne Kurzgeschichte mitgebracht und ick musste dann zwangsläufig die auch lesen und… manchmal warn’se gar nicht unbegabt, aber… also die Entscheidung beim Saufen zu bleiben war für die meisten schon sehr vernünftig."
Vom Kneipengespräch als kabarettistischem Sujet hält Buchholz allerdings nicht besonders viel…
"Also, wenn im Kabarett angefangen wird… Na, Willi, wie issss dennnn so, hicks? – dann schalt ich schon automatisch ab."
Für ihn, der von Berufs wegen satirisch sein muss, ist der Gang in die Kneipe eine Art Psychohygiene:
"Und das verkrustet ja manchmal auch so’n bisschen das Hirn und auch die Lebensfreude. Und da hilft es dann schon, mal wieder zu relaxen, zu entspannen und solchen Anregungen zu folgen oder solche Gespräche überhaupt zu haben."
Im September 1989 trat Martin Buchholz vor Kollegen in Ost-Berlin auf. Danach kamen alle in einer Kneipe zusammen. Und auch hier wurde die Kneipe zu einem politischen Ort. Buchholz’ Lebensgefährtin, die Produzentin und Filmemacherin Harriet Eder erinnert sich an den Autor und Satiriker Helmut Fensch.
"Und der beschwerte sich ganz offen über die Verhältnisse. Und da sagte ich zu ihm: Sag’ mal, hast Du nicht Angst, dass hier auch die Stasi mit am Tisch sitzt? Und da sagt er: Na, das hoffe ich doch, dass die hier mit am Tisch sitzt. Und ich ging auf die Toilette und überall hörte man Gespräche, wo man fast Angst bekam…"
Buchholz: "Die sammelten auch ganz offen Unterschriften für’s neue Forum damals."
Wohnzimmeratmosphäre und Alkoholnebel – das Kneipengespräch chargiert seit Jahrhunderten zwischen Bierseligkeit und politischem Diskurs.
Eder: "Wie man gerade merkt, muss man Kneipengespräche etwas länger anlaufen lassen. Also, es muss auch etwas Bier fliessen und die Kneipengemütlichkeit einen inspirieren."
Buchholz: "Du meinst mit anlaufen vollaufen oder wat? Wollwa nich’n kleinet Kneipengespräch…"
Eder: "Würde ich nie sagen."
Buchholz: "Ne? OK."
Ob Club der einsamen Herzen, politisches Diskussionsforum, Alkoholikertreff oder einfach Ort der Entspannung: Die Berliner Kneipe - von den Eingeborenen gerne auch "Chez Icke" genannt – ist selbst nach Jahren des Kneipensterbens nicht totzukriegen. Auch wenn das Kneipengespräch heute immer mehr in die Sozialen Netzwerke abwandert. Womit wir wieder beim Anfang wären.
"Ach ja, die beiden 20-Jährigen, die sich anschweigen und auf ihren Smartphones rumtippen…"
Genau. Wobei die in Zeiten von NSA und "Big Data" sich ja um das Spitzeln keine Sorgen mehr machen müssen – das gibt es da ja inklusive. Dafür ist das analoge Kneipengespräch heute vielleicht so sicher wie seit 150 Jahren nicht mehr.
Also – die Wiedergeburt des Stammtisches als subversiver Kommunikationskanal!
Eder: "Es gehört ja so etwa dazu wie sich geschützt fühlen durch die Gruppe der Menschen die mittrinkt oder nebentrinkt. Du hast ja auch ne Art Schutz durch diesen ich sag jetzt mal ´Lärmpegel`, den wir grade jetzt auch haben. Du merkst, es wird nicht mehr jedes Wort registriert, das ist anders, als wenn ich mit Dir im Restaurant sitze, wo ich merke…"
Buchholz: "Pass uff, da is’n Mikrofon vor Deiner Nase…"
Eder: "…der Nebentisch hört mit."
Nee, heute wird nur noch – mitgelesen.
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