Ein literarischer Temperatursturz

06.10.2011
Jo Lendle begibt sich in seinem dritten Roman auf die Spur des historischen Polarforschers Alfred Wegener und seiner Theorie vom Driften der Kontinente - und entführt den Leser in eine faszinierend gleißende Eiswüste.
Bereits nach 130 Seiten wähnt man ihn am Ende. Alfred Wegener, der Polarforscher, nach einem Drittel des Romans steckt er im ewigen Eis seiner ersten Grönlandreise und damit in unmenschlichen Verhältnissen. Das Thermometer sinkt auf bitterliche Minusgrade, die trächtige Schlittenhündin muss er mit gefrorenen Exkrementen aus seinem Abort versorgen, der Blick geht von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf das gleißende Nichts.

An seinem 26. Geburtstag schmilzt Wegener etwas Schnee, setzt Wasser auf um wiederum einen Apfel aufzutauen zur Feier des Tages. Und dass er diesen Winter in der selbstgebauten Forschungsstation im Eis überleben wird, glaubt man als Leser noch weniger als der Protagonist selbst.

Doch es wird noch fast ein Vierteljahrhundert dauern, bis Alfred Wegener eins mit dem Eis wird, auf seiner dritten Reise 1930, kurz nach seinem 50. Geburtstag. Sein Grab findet man Monate später, der Kollege, der ihn in zwei Schlafsäcke eingenäht hat bleibt bis heute verschollen. Was ist das für ein Mann, den sich der Autor Jo Lendle ins ewige Eis setzt und dem man lesend so nahe kommt, dass man fühlt, wie seine Wimpern an der Kapuze festfrieren, bei jedem Blinzeln ein paar davon abreißen?

Offiziell ist Alfred Wegener Pionier der Polarforschung, Meteorologe, Geologe, dessen Theorie von der Kontinentalverschiebung zu Lebzeiten von Kollegen als Fieberphantasie abgetan wurde. Der drei Jahrzehnte nach seinem Tod erst rehabilitiert wurde, und der heute als Grundlagengeber für das Modell der Plattentektonik gilt. Soweit der Schulbuch-Wegener. Dem Jo Lendle in diesem Roman mit einer Frage begegnet, die eine lange literarische Tradition hat: Wie viel Leben steckt in einer historischen Persönlichkeit, wie viele Geschichten stecken in der Geschichte?

Wegener, so werden wir belehrt, war von Geburt an niemals allein. Seine Kindheit erstreckt sich zwischen einer Schar von natürlichen und Stiefgeschwistern im väterlich geleiteten Waisenhaus, zwischen Esstisch, Schulbank, Garten, Kirche und dem großen Schlafsaal. Sinnlich dicht erzählt Jo Lendle von dieser Kindheit, durchsetzt sie mit kulinarisch ausgeschmückten Naturbeobachtungen und springt chronologisch von kleinen zu großen Begebenheiten in Wegeners Leben, lässt auch mal ein paar Jahre beschreibungslos vorübergehen, bevor er wieder mit seiner Fantasie in dieses Forscherleben einhakt. Szenenornamente rankt Lendle so um biografische Fakten, wird mal plastisch, mal philosophisch, nie aber beliebig.

Früh interessiert Wegener etwa die Schmetterlingsraupe in der Kienspanschachtel mehr als das Versteckspiel. Und es wird vollkommen plausibel, dass in diesem immer von Familie umgebenen Menschen eine Sehnsucht nach der Erfahrung der Weite und der Einsamkeit wachsen. "Steht dir nicht alles Land offen?" fragt Wegener sich mit dem ersten Buch Moses, und begibt sich in eisige Weltferne.

Jo Lendle ist ein Autor, den die Bewegung in der Welt zu interessieren scheint. Auch seine beiden Vorgängerromane handelten - auf sehr unterschiedliche Weise - von Reisen, die entweder in den Tod oder in die Einsamkeit des Alls führten. Hier nun erweist er sich einmal mehr als gewandter Reiseführer, indem er eine Persönlichkeit aus der Naturwissenschaftsgeschichte birgt und sie poetisch fruchtbar macht. Dabei erfindet er auf wundersame Weise eine Figur, die sich in Bewegung setzt um die Kontinentaldrift zu erkunden und dabei Einsamkeit in ihren topografischen und psychologischen Extremen erlebt, die sich von der Welt trennt um sie in ihrem Innersten zu erklären. Eine poetische Biografie, so originär und wunderbar zu studieren wie eine Eisblume.

Besprochen von Katrin Schumacher

Jo Lendle: Alles Land
DVA, München 2011
379 Seiten, 19,99 Euro

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