"Ein Leben ohne Klavier kann es für mich nicht geben"

Moderation: Frank Meyer · 02.11.2006
Chopin habe sie gerettet, sagt die Pianistin Alice Herz-Sommer, wenn sie darüber spricht, wie sie das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hat. Und auch heute noch spielt die 103-Jährige täglich drei Stunden Klavier.
Auszüge aus dem Gespräch:

Frank Meyer: Die Musik hat mich gerettet, vor allem die Musik von Chopin hat mich gerettet, das sagt die Pianistin Alice Herz-Sommer, wenn sie sie darüber spricht, wie sie das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hat, zusammen mit ihrem kleinen Sohn Stephan. Alice Herz-Sommer ist jetzt 103 Jahre alt. Es gibt ein Buch über ihr Leben und wir können mit ihr selbst sprechen. Frau Herz-Sommer, ich habe gelesen, Sie spielen bis heute jeden Tag drei Stunden Klavier, haben Sie denn heute schon gespielt?

Alice Herz-Sommer: Natürlich, ein Tag ohne Klavier … verliert den Wert zu leben. Das hält mich am Leben. Wenn ich zurückdenke, Millionen Stunden habe ich am Klavier verbracht, aber mit größtem Vergnügen natürlich, nicht aus Pflicht oder so. Ein Leben ohne Klavier kann es für mich nicht geben.

Meyer: Und das ist bis heute ein Vergnügen? Ist das nicht furchtbar anstrengend?

Herz-Sommer: Es ist überhaupt nicht anstrengend, aber leider sind meine zwei Zeigefinger nicht so, wie sie früher waren. Sie machen nämlich, was sie wollen, und nicht, was ich will. Ich spiele trotzdem natürlich und ich habe einen ausgezeichneten Geiger, der kommt zweimal im Monat. Da spielen wir Sonaten, da haben wir beinahe schon alle Sonaten durchgearbeitet. …

Meyer: Jetzt spielen Sie schon fast 100 Jahre Klavier. Sie haben mit fünf Jahren angefangen, das war damals in Prag und in dieser Zeit, als sie ein junges Mädchen waren, haben Sie einen Mann kennen gelernt: Franz Kafka. Was für uns heute klingt wie eine Legende. Sie haben Franz Kafka persönlich kennen gelernt. Können Sie uns erzählen, wie Sie diesen Dichter erlebt haben?

Herz-Sommer: Er war der beste Freund meines Schwagers. Wir waren fünf Kinder, zwei Söhne und drei Töchter. Und die ältere Schwester, die zwölf Jahre älter war als wir, die Irma, war die Frau von Felix Welsch, und Felix Welsch war der beste Freund von Franz Kafka und Max Brod. … Franz Kafka kam sehr oft zu uns. Meine Mutter hat sich sehr gerne mit ihm unterhalten. Und außerdem war er sehr kinderlieb. …

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Meyer: Sie haben sich in einer ganz besonderen Situation entschlossen, die 24 Etüden von Chopin einzuüben, also fast das schwerste, was es gibt für Klavierspielerinnen und Klavierspieler, das war 1942. Ihre Mutter war gerade deportiert worden im Alter von 72 Jahren.

Herz-Sommer: Das war einer der Tiefpunkte meines Lebens, nämlich nicht, dass ich im Konzentrationslager war, dass meine Mutter weggeschickt wurde, die 72 Jahre war und nicht mehr ganz gesund. … Ich war einige Tage total deprimiert und bin zum Doktor gegangen, konnte nicht essen, nicht schlafen. Da bleibe ich plötzlich stehen – ich weiß noch nach so vielen Jahren, wo das war - da sagt mir eine innere Stimme: Jetzt kannst nur du dir alleine helfen, nicht der Doktor, nicht der Mann, nicht das Kind, nur du alleine. Und im selben Moment kam mir die Idee: die 24 Etüden von Chopin.

Das gesamte Gespräch mit Alice Herz-Sommer können Sie für begrenzte Zeit in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören.