Ein "Komplex von Problemen"

Daniel Domscheit-Berg im Gespräch mit Joachim Scholl · 26.10.2010
Bei der Enthüllungsplattform Wikileaks sei es "vollkommen unklar, wie gewisse Entscheidungsprozesse ablaufen", sagt der ehemalige Deutschland-Sprecher der Organisation, Daniel Domscheit-Berg. Wikileaks müsse eine transparente Kultur entwickeln.
Joachim Scholl: Über Macht und Möglichkeiten von Wikileaks weiß er bestens Bescheid: Daniel Domscheit-Berg gehört zu den Gründern der Internetplattform, die seit 2006 offizielle Dokumente im Netz veröffentlicht und Regierungen und Verwaltungen und dem Militär so die Hölle ziemlich heiß macht. Der neueste Coup: die Veröffentlichung von annähernd 400.000 offiziellen Papieren zum Irak-Krieg. Daniel Domscheit-Berg war früher Sprecher von Wikileaks, jetzt ist er bei uns – guten Tag!

Daniel Domscheit-Berg: Guten Morgen!

Scholl: Sie haben Wikileaks im Streit auch wegen der Veröffentlichung dieser Irak-Papiere verlassen – warum?

Domscheit-Berg: Die Veröffentlichung der Irak-Papiere ist nur ein Detail in einem größeren Komplex von Problemen, der aus meiner Sicht besteht. Es geht hier vor allem um organisatorische Probleme, Fragen der strategischen Ausrichtung, die Verteilung von Verantwortlichkeiten und Rollen innerhalb der Organisation und im Allgemeinen eigentlich – so ironisch das vielleicht klingt – die Transparenz innerhalb der Organisation, was die Arbeit angeht.

Scholl: Die Kritik fokussiert sich in dieser Hinsicht – so viel ist schon öffentlich geworden – immer auf den Leiter, Julian Assange heißt er, dem man mangelnde Transparenz und Omnipotenzfantasien vorwirft. Trifft das zu?

Domscheit-Berg: Das könnte man so sagen, ja.

Scholl: Und das heißt, er hat auch diese Irak-Papier-Geschichte alleine durchgezogen ohne die nötige und notwendige Transparenz in der Organisation?

Domscheit-Berg: Also es gibt auch bei dieser Veröffentlichung einige Leute, mit denen er ja natürlich zusammenarbeitet. Es gibt auf der anderen Seite, gab es eine ganze Menge anderer Leute, die innerhalb der Organisation auch von der Veröffentlichung berührt wären, denen gegenüber jegliche Informationen, was die Planung angeht, was auch Kooperation mit den Medien angeht, überhaupt die allgemeine Vorstellung, wie das laufen sollte, eben verweigert wurde.

Scholl: Hätten Sie die Papiere in dieser Form nicht veröffentlicht?

Domscheit-Berg: Also ich habe mir die Veröffentlichung jetzt im Nachhinein ja auch angeschaut, und eigentlich ist die Veröffentlichung, soweit ich das beurteilen kann, komplett unbrauchbar, außer für die Medien, die schon vorher exklusiven Zugang bekommen haben. Es wurde ja diesmal automatisch redigiert, also mit einem Algorithmus, einem Programm wurden dort Namen entfernt. Das hat dann dazu geführt, dass eigentlich in diesen Papieren kein Inhalt mehr erkennbar ist, soweit ich das stichprobenartig sehen konnte.

Scholl: In den Medien heißt es ja relativ einhellig, ziemlich positiv auch: Jetzt tritt die Wahrheit zutage über die wahre Anzahl der Toten, über Folter der irakischen Behörden. Das heißt, Sie sehen das nicht so, in so einem positiven Licht – diese Wahrheit?

Domscheit-Berg: Na ja, also es waren ja, glaube ich, ein Dutzend, ein knappes Dutzend Medienorganisationen bei dieser exklusiven Vorabanalyse beteiligt, die haben ja schon extrem gute und gut recherchierte auch Geschichten dazu geschrieben. Ich denke, es gibt viele Dinge, die jetzt ans Licht kommen, auch zum Beispiel ja die Zahl der zivilen Opfer, die vorher so in dieser Höhe gar nicht bekannt war. Es gibt viel anderes Detail, was ans Tageslicht kommt, und das ist sicherlich wichtig, das würde ich nie abstreiten wollen.

Scholl: Das heißt also, das ist doch ein Mehrwert, also nicht nur für die Medien ein Wert, wie Sie ja gerade soeben sagten?

Domscheit-Berg: Nein, das sind ja zwei verschiedene Paar Schuhe, die man beurteilen muss. Also Wikileaks war immer gedacht als eine Plattform, die die Analyse von Dokumenten ermöglicht. Und der Fokus dieser Plattform sollte sein, diese Dokumente zur Verfügung zu stellen, und zwar so, dass sie brauchbar sind für Dritte. Ob diese Dritten nun Medien sind oder eben die allgemeine Öffentlichkeit, sollte keinen Unterschied machen.

Scholl: Im Sommer 90.000 Dokumente zu Afghanistan, jetzt die vierfache Menge an Papieren zum Irak-Krieg – man könnte ja sagen, rein zahlenmäßig wird der Erfolg von Wikileaks immer deutlicher, immer mehr Material gelangt da hin –, was heißt das aber konkret für die Arbeit der Wikileaks-Betreiber? Ab wann ist es denn zu viel, oder ist es schon zu viel?

Domscheit-Berg: Aus meiner Sicht ist das eines der Probleme, das besteht. Es geht irgendwie – zumindest könnte man den Eindruck haben – nur noch darum, Weltrekorde zu brechen und mit jeder Veröffentlichung noch eins draufzusetzen. Und das ist aus meiner Sicht nicht das, wofür die Plattform eigentlich mal angetreten war. Das ist jetzt auch wieder bei der Entwicklung einer Organisation eine strategische Entscheidung, wie man sich ausprägt: Will man langsam wachsen und die Organisationsstrukturen ausbauen oder möchte man mit den dicksten Kugeln, die man hat – irgendwie voran Hals über Kopf aus meiner Sicht –, sich möglichst schnell möglichst populär machen?

Scholl: Wie hat sich denn Wikileaks denn dann nach Ihrer Meinung oder warum hat es sich denn dann so schlecht entwickelt? Als Sie starteten 2006 – und Sie waren ja ziemlich von Anfang an dabei –, was hatte man denn für Ideen, für Visionen, für Ideale vielleicht auch?

Domscheit-Berg: Also ich bin seit Ende 2007 dabei, ungefähr im Oktober 2007 bin ich zu dieser Organisation gestoßen, bis vor einigen Wochen jetzt, und eigentlich war immer das Ziel, dass man eben nicht diskriminiert zwischen großen und kleinen Einsendungen, dass man nicht versucht zu beurteilen, welches Material ist relevant und welches Material ist irgendwie irrelevant, sondern man wollte, egal woher eine Einsendung kommt, egal wie groß oder klein sie ist, sich darum kümmern. Dass man anhand von begrenzten Ressourcen natürlich auch hier priorisieren muss, ist vollkommen klar. Die Frage ist eben nur, ob es sinnvoll ist, mit den größten Veröffentlichungen Hals über Kopf voranzuschreiten oder ob man nicht langsam diese Organisation hätte aufbauen sollen.

Scholl: Wikileaks in der Kritik von Daniel Domscheit-Berg. Er war früher der deutsche Sprecher der Internetplattform. Was heißt überstürzt, Herr Domscheit-Berg? Ich meine, also die Verbindung von Netz und klassischem Journalismus, wie ja jetzt Wikileaks ihn jetzt propagiert auch, also man holt sich seriöse Medien mit ins Boot, man sichert sich so journalistische Glaubwürdigkeit – den "Guardian", den "Spiegel", die "New York Times", die "Le Monde" –, das ist doch eigentlich eine gute Praxis, oder, zu sagen, hier ist das Material, guckt es euch an, und dann veröffentlichen wir es.

Domscheit-Berg: Das ist natürlich eine gute Praxis, das ist ja auch Konsequenz aus dem, was wir über die Jahre gelernt haben, dass es sehr wichtig ist, die Medien enger mit einzubeziehen, denn eine reine Veröffentlichung von Quellenmaterialien geht eigentlich unter, und in der Regel weiß niemand was mit dem Quellenmaterial anzufangen, außer Journalisten, die sich mit dem Thema vielleicht auskennen. Also von daher ist das sicherlich sinnvoll. Auf der anderen Seite ist auch Leuten wie mir, die intern involviert waren, vollkommen unklar, wie gewisse Entscheidungsprozesse ablaufen.

Es gibt Entscheidungen, die von Julian Assange auch alleine getroffen werden, wie meine Suspendierung in dem Fall, entgegen dem Willen aller anderen, die beteiligt sind. Es ist ganz unklar, was in verschiedenen anderen Bereichen der Organisation passiert, und aus meiner Sicht ist mit der Macht, die diese Organisation ja gewonnen hat über die Informationen, die ihr zugespielt werden, steigt auch die Verantwortung, die man hat, gegenüber der Gesellschaft. Und es ist extrem wichtig, hier robuste Prozesse zu haben und auch eine eigene transparente Kultur zu pflegen und zu entwickeln.

Scholl: In einem Essay haben Sie neulich, Herr Domscheit-Berg, die grundsätzliche Idee von Wikileaks verteidigt, also das sogenannte Whistleblowing, also jemand benennt und dokumentiert einen Skandal, der sonst keine Öffentlichkeit fände. Sie kritisieren in dem Zusammenhang auch, dass Wikileaks sich inzwischen fast ausschließlich aufs Pentagon und auf Papiere in dieser Richtung konzentriert. Wo wäre denn Ihrer Ansicht nach anderes wichtiges demokratisches Potenzial?

Domscheit-Berg: Also es gibt sehr viele oder gab sehr viele Einsendungen, die in dem letzten halben Jahr oder seit Anfang diesen Jahres angefallen sind, die überhaupt nicht verarbeitet wurden, und das rangiert oder ist ein Querschnitt aus allen möglichen Ländern dieser Welt. Es geht um Korruption innerhalb von Firmen da, genauso wie bei Regierungen, innerhalb von Verwaltungen oder wo auch immer, so wie das die drei Jahre vorher eigentlich auch passiert ist.

Genau dieser Querschnitt ist eigentlich das, was den Wert der Organisation ausmacht oder dieses Portals, nämlich dass man keine politische Agenda verfolgt, die sich fokussiert auf ein Feindbild, das man versucht anzugreifen, oder auf eine bestimmte Größe von Veröffentlichungen, die man macht, sondern dass man eben den gesellschaftlichen Querschnitt, den man weltweit empfängt, auch so widerspiegelt und eben zeigt, wo das Potenzial für Reformen vorhanden ist.

Scholl: Nun spricht man bei diesen Medien schon so ein bisschen von der fünften Gewalt, also über den Journalismus noch hinaus. Ich meine, welche Möglichkeit besteht eigentlich für solche Art Whistleblowing zum Beispiel auch in Diktaturen und autokratischen Systemen?

Domscheit-Berg: Diese Möglichkeit besteht ganz bestimmt. Dafür muss man aber auch entsprechende Ressourcen aufbringen, um diese Technologie – und Wikileaks ist eigentlich nichts anderes als eine Art von Technologie, die implementiert wurde –, dass man die auch in diesen Ländern zum einen etabliert und zum anderen auch Möglichkeiten schafft, das dort zu propagieren. Also es ist – die muttersprachliche Barriere zum Beispiel ist eines der größten Probleme, und es ist sehr ressourcenintensiv, in Drittweltländern oder anderen Ländern, die weniger freiheitlich orientiert sind und wo man Korruption erwarten würde und wo diese auch sicherlich vorhanden ist, dass man eben den Menschen dieses Portal in ihrer Muttersprache näherbringen kann und dass man ihnen Wege schafft, wie auch dort dieses Portal genutzt werden kann.

Scholl: Jetzt ist Wikileaks trotzdem in aller Munde, schwimmt oberflächlich gesehen auf einer Welle des Erfolges. Was prognostizieren Sie? Ist Wikileaks eigentlich, ist die Idee gescheitert nach Ihrer Meinung oder wird sie in anderer Form triumphieren?

Domscheit-Berg: Also die Idee ist auf gar keinen Fall gescheitert. Die Idee ist, der Geheimnisverrat – das hatte ich ja so auch geschrieben – ist salonfähig geworden, es wurde in unser aller Wohnzimmer getragen, und das ist etwas, was eine ganz andere Qualität innerhalb unserer Kultur erfahren hat. Von der Seite würde ich sagen, die Idee ist auf gar keinen Fall tot, sie ist so lebendig wie nie zuvor.

Auf der anderen Seite ist natürlich die Frage, wie es mit Wikileaks als Organisation weitergeht und auch, inwiefern sich nicht vielleicht andere Teile der Welt davon inspiriert sehen, von dieser Idee. Also es gibt mittlerweile in anderen Teilen der Welt ja auch Unternehmungen, ähnliche Portale zu eröffnen – die Idee selbst ist ja auch älter als Wikileaks, es ist jetzt eine Frage der Entwicklung.

Und im Endeffekt denke ich oder ich hoffe, es wird darauf hinauslaufen, dass es irgendwann möglichst viele verteilte Plattformen gibt, die solches Material entgegennehmen können, die das Material in welcher Form auch immer an die Öffentlichkeit weitergeben können und dass wir so eine Art Dezentralisierung dieser Gewalt, die jetzt eigentlich bei Wikileaks auch entsteht, erfahren werden. Eine Zentralisierung der Gewalt ist ja etwas, was wir immer kritisiert haben, und das ist etwas, das auch für diese Organisation zutreffen sollte.

Scholl: Ist Wikileaks jetzt mit dieser Veröffentlichung, dieser massenhaften Veröffentlichung an seine Grenzen auch gestoßen, strukturell?

Domscheit-Berg: Das ist eine gute Frage. Ich bin ja seit einigen Wochen nicht mehr involviert. Also die Veröffentlichung macht einen etwas übereilten Eindruck. Andererseits ist immer Zeitdruck im Spiel gewesen. Der Mehrwert wird sich historisch zeigen, denke ich, das lässt sich jetzt noch nicht beurteilen.

Scholl: Über Grenzen und Möglichkeiten der Wikileaks-Methode. Das war Daniel Domscheit-Berg, der frühere Sprecher der Internetplattform. Vielen Dank für Ihren Besuch!

Domscheit-Berg: Da danke auch ich!
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