Ein Jahrhundert der Leichen

13.05.2013
Der Zeithorizont dieses gigantischen Geschichtsromans mit mehr als 1000 Seiten reicht vom Ersten Weltkrieg bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen die Diktaturen Hitlers und Stalins und ihr großer Krieg gegeneinander. Doch in diesem sprachmächtigen Buch geht es um mehr - um Kunst und Macht, um Freiheit und Schicksal, um Widerstand und Verhängnis.
Man kann den Titel "Europe Central" so verstehen, dass er auf ein Europa verweist, dass im Zentrum eine Kriegslandschaft ist. Und es ist offen, ob Europa in dieser Landschaft untergegangen oder entstanden ist. Die zerklüftete Topographie in William T. Vollmanns gigantischem Geschichtsroman umfasst das Gebiet des Deutschen Reiches und der Sowjetunion. Der Zeithorizont reicht vom Ersten Weltkrieg bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen die Diktaturen Hitlers und Stalins und ihr großer Krieg gegeneinander: Stalingrad und der Untergang der 6. Armee, die Belagerung von Leningrad, Auschwitz, die Bombardierung Dresdens.

"Europe Central" steht aber auch für eine Telefonzentrale, von der aus der Kontinent verdrahtet und vermessen wird. Der Erzähler, der sich da einschaltet, hat seine Ohren überall: Er ist ein Mann vom Nachrichtendienst. Mal gehört die Erzählerstimme einem überzeugten Nazi, mal einem bolschewistischen Agenten. Ganz zu trauen ist ihr deshalb nie. Kommunikation hat mit Überwachung und Geheimhaltung zu tun. Aus dieser Zentral-Perspektive entsteht das Geschichtsbild in "Europe Central". Und auch die technischen Bedingungen sind Gegenstand der Erzählung: Nicht nur das Telefon, sondern auch der Stahl, der in Gestalt von Panzern in Bewegung gesetzt wird. Jedes Ding muss die ihm gemäße Form finden. Das gilt auch für die Sprache.

Vollmann nähert sich der Geschichte biografisch. Er verwebt verschiedene Lebensläufe so miteinander, dass daraus ein komplexes Epochenbild entsteht. Als "Zangenangriffe" bezeichnet er seine Methode, russische und deutsche Schicksale einander paarweise und spiegelbildlich gegenüberzustellen. So geht es um die Generäle Wlassow und Paulus, die nach ihrer Gefangennahme die Seiten wechselten und mit dem Feind kooperierten. Die eigentliche Zentralfigur ist jedoch der Komponist Dimitri Schostakowitsch, das "Genie in Ketten", wie es einmal heißt. Kunst als Mittel des Widerstands und als Propagandainstrument bei ihm, der oft genug um sein Leben fürchten musste, ist beides zu finden. Wenn bei ihm, das Telefon klingelte, dann war das immer angstbesetzt: Ein gepackter Koffer für die Verhaftung stand stets bereit. Militärgeschichte und Kunstgeschichte auch das ist ein "Zangenangriff" aufs Zentrum der historischen Frontverläufe. Seit Peter Weiss’ "Ästhetik des Widerstands" gab es wohl keinen Roman, der Kunst so emphatisch behandelt hätte und sie in ihrer Entstehung so unmittelbar in den historischen Prozess hineinstellt.

"Europe Central" folgt einer Überwältigungsstrategie, in der die militärische Gewalt durch die künstlerische Potenz gebändigt wird. Er zeigt, wie klein die Spielräume der Freiheit für jeden Einzelnen sind, wie groß aber das Verhängnis der Zeit, in die das Leben schicksalhaft eingebunden ist. Inmitten der umfassenden Vernichtung zündet er immer wieder Leuchtraketen der Hoffnung, auch wenn die Hoffnung wie es einmal über General Wlassow heißt nur noch an "gefrorene Leichen mit ausgestreckten Händen auf dreckigem, schmelzendem Schnee" erinnert. Es ist dem Übersetzer Robin Detje zu danken, dass diese Sprache auch im Deutschen nichts von ihrer Urkraft und Schönheit verloren hat.

Besprochen von Jörg Magenau


William T. Vollmann: Europe Central
Aus dem Amerikanischen von Robin Detje
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
1028 Seiten, 39,95 Euro