Ein guter Jahrgang

Von Frieder Reininghaus · 09.07.2012
Mit der als Sensation gefeierten Uraufführung von George Benjamins "Written on Skin" hatte sich das Festival einen zeitgenössischen Schwerpunkt zugelegt. Mozarts Oper "La finta giardiniera" bewies, dass das mehr als sechs Jahrzehnte alte Festival frisch und munter geblieben ist.
Spätestens Samstagnacht zeichnete sich ab, dass 2012 einer der besseren Jahrgänge des Festival lyrique in Aix-en-Provence wird: Mit der als Sensation gefeierten Uraufführung von George Benjamins "Written on Skin" hatte sich das Festival einen zeitgenössischen Schwerpunkt zugelegt. Das Kontempräre erhielt durch das Projekt "Une situation Huey P. Newton J.M. Bruyère" an einem der "sozialen Brennpunkte" ein paar Kilometer außerhalb des Stadtkerns einen weiteren Akzent: Da wurde in einer Salle polyvalente und dem über eine Fußgängerbrücke erreichbaren Bürgerpark auf Probleme der heutigen Welt im Allgemeinen und das inzwischen auch schon wieder historische Anliegen der Black Panther-Bewegung lautstark und optisch grell aufmerksam gemacht.

Der aus Kanada stammenden Amsterdamer Sängerin Barbara Hannigan, der zentralen Figur der Dreiecksgeschichte, war im Vorfeld der Benjamin-Premiere etwas bang, ob alles wie vorgesehen klappt: "It is a big mix of strong forces, absolutely hard wending at the end. It is quite violent – we have a fight director, who works with us and we have to rehearse the fights before every performance, because they are dangerous – and it is very violastic and I'm extremely curious how the public will react.”

Das Publikum war entzückt und begeistert. Es bekam – fotorealistisch bzw. "filmisch" in zwei Etagen hoch- und breitgezogen – eine zwischen Gegenwart und Mittelalter changierende Geschichte serviert. Diese wurde unterspült und überwölbt vom Tonsatz des 52-jährigen britischen Komponisten und Dirigenten Benjamin, der sich als Lieblingsschüler Olivier Messiaens feiern lässt. Jedenfalls kompilierte er routiniert eine moderat-moderne Musik, in der Spolien funkeln – Floskeln der mittelalterlichen geistlichen Vokallineatur und Nachhall rekonstruierter Spielmannsmusik.

Als Textgrundlage wurde ein razo aus dem 13. Jahrhundert bearbeitet. In dieser Ballade erzählt ein namentlich nicht bekannter okzitanischer Troubadour die Geschichte eines politisch einflussreichen Großgrundbesitzers, der sich mit der schönen Agnès eine 14-jährige Frau hält, der das Lesen und Schreiben nicht beigebracht wurde. Der Feudalherr nimmt einen jungen Maler in seinen Haushalt auf und beauftragt diesen, ihn und seine guten Werken in einem Buch zu verewigen. Zunächst ablehnend gegenüber dem neuen Medium, wird Agnès bald neugierig. Es entbrennt heftige Liebe und Agnès triumphiert über ihren alternden Gatten, indem sie den Maler den Widerschein der Glut ins Buch schreiben und malen heißt. Der Protektor bringt den naiven Künstler um, schneidet ihm das Herz aus der Brust und serviert es Agnès gut gegart und provencalisch gewürzt. Die sich anschließende körperbetonte Auseinandersetzung entscheidet die Frau, indem sie vom hohen Balkon springt. Der minutiöse und dekorative Tatort-Realismus der britischen Regisseurin Katie Mitchell zeigt das so deutlich wie schicklich.

Martin Crimps Text führt mit dem Eingangsgesang der drei Engel aus der Gegenwart der International Airports hinüber ins Hochmittelalter, in dem jedes Buch einzeln von Hand und auf Tierhaut gestaltet wurde – "written on skin". Die Dialoge befleißigen sich der indirekten Rede, wie dies heute noch Siebenjährige praktizieren und fügen ihren gewichtigen Sätzen allemal ein "says the boy" oder "says the woman" hinzu. Das unterstreicht die Kindheitsmuster der Buch-, Mal- und Theaterkünste des 13. Jahrhunderts, von deren Aura das Uraufführungsprojekt in Aix in hohem Maß profitiert. Die Form der Anknüpfung entspricht der von Amin Maaloufs und Kaija Saariahos "L'amour de loin" auf eine Trobador-Legende (Salzburg 2000). Nun hat auch die von Bax, Britten und Birtwhistle repräsentierte Linie einer spezifisch britischen Musikzubereitung ein Stück schlicht-erhaben erzählten und prunkend neu betönten Mittelalters erhalten. Dies erscheint umso gewichtiger, als sich das britische Kulturleben bezüglich seines Traditionalismus und des historischen Bewusstseins in besonderer Weise etwas zu Gute und Altaquitanien irgendwie für zugehörig zur eigenen Königs- und Adelsgeschichte hält.

Die Uraufführung von "Written on Skin" verfügte mit Christopher Purves über einen souverän wohlbeleibten Protektor, der mit seinem stattlichen Bariton den Machtmenschen beglaubigt. Bejun Mehta stellt seine sympathische Counterstimme in den Dienst der jungen Buchmalerkunst und des Verführtwerdens. Triumphal gestaltete sich der Premierenabend für Barbara Hannigan, der Benjamin die Rolle der Agnès auf den Leib schrieb: Diese Sopranistin verfügt souverän über traditionelle Gesangstechniken wie über deren Grenzverletzungen. Sie ist die Topdarstellerin der Gegenwart für eine solche Partie.

Mehr als der Gegenwart oder gar der Zukunft zugewandt ist das Festival in Aix den verschiedenen Schichten der musiktheatralen Vergangenheit. So wurde heuer auch an die zwischen 1916 und 1925 entstandene Fantaisie lyrique "L'Enfant et les sortilèges" von Maurice Ravels erinnert. Ein junges Team präsentierte im Théâtre du Jeu de Paume die pädagogisch gemünzte Kammeroper vom Kind und dem Zauberspuk, in der ein pubertierender Knabe während eines von der Mutter wegen Aufsässigkeit verhängten Stubenarrests das Mobiliar zertrümmert und die Haustiere quält – dieser normannisch-französische Friederich ist ein arger Wüterich. Doch die Objekte seines Destruktionstriebs machen ihm Vorhaltungen und das Tierreich im nächtlichen Garten bekehrt ihn zur Sanftmut – Damien Caille-Perret hat einen wundersam altmodischen Raum für diese Geschichte geschaffen und Anne Autran adrette Kostüme.

Fast aus den ältesten Schichten des französischen Musiktheaters stammt "David et Jonathas" von Marc-Antoine Charpentier. William Christie versuchte mit der gleichfalls stark gealterten Spezialtruppe Les Arts Florissants, diese klerikal-bürokratische Tragédie en musique von 1688 und vom Hof des Sonnenkönigs Louis XIV. im Hof der Archevêché zu revitalisieren. Andreas Homoki beorderte dazu die dem Alten Testament entstammenden Figuren Saul, David und Jonathan in einen mit nordischem Lärchenholz getäfelten Einheitsraum und in optisch erregendes Ikea-Mobiliar. Der Einstand des neuen Züricher Operndirektors auf dem großen internationalen Opernparkett erwies sich als spärlich und tröge. Er hat also dort Zukunft, wo Oper aus neokonservativer Ranküne gesellschaftlich ruhiggestellt werden soll.

Zu guter Letzt ging es wieder hinaus aufs Land – zu einer falschen Gärtnerin in echter Natur. Im Sonnenuntergang auf der Domäne Grand Saint Jean unterstrich die wiederum fast gänzlich von jungen Künstlern bestrittene Präsentation von Mozarts früher Oper "La finta giardiniera", dass das mehr als sechs Jahrzehnte alte Festival auch auf dem Hauptfeld seiner Aktivitäten frisch und munter geblieben ist. Le Cercle de l'Harmonie konkurrierte mit den Zikaden, Layla Claire in der Titelpartie mit Sabine Devieilhe als quirliger Serpetta. Sie arrondierten einen der besseren Jahrgänge des Festivals.

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