Ein großer innerer Monolog des modernen Menschen

Rezensiert von Burkhard Müller-Ullrich · 21.11.2010
Kaum jemand weiß wirklich, was es mit dem Genom auf sich hat. Aber jeder spürt, dass es eine große und heilige Sache ist. Man erwartet irgendeine Form von metaphysischer Erleuchtung, wenn man seinen Körper-Code, seinen leiblichen Bauplan, sein materielles Lebensprogramm erfährt.
Früher befragten die Menschen das Orakel und unternahmen allerlei andere abgründige Anstrengungen, um die verborgenen Chiffren der Zukunft zu lesen, heute geben sie ein paar Milliliter Blut ab. Als diese Technologie just zur letzten Jahrtausendwende operationell wurde, feierte das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung diesen Epochensprung mit einer surrealistischen Veröffentlichung: Auf sechs Seiten breiten sich vor dem Leser die Buchstaben A, G, C und T aus, ein sinnloser Salat, der gleichwohl mit geradezu religiöser Andacht serviert wurde.

Es hat durchaus seine Richtigkeit, dass sich ein Schriftsteller des Themas annimmt; populärwissenschaftliche Abhandlungen gibt es darüber mehr als genug, aber das Wesentliche sind doch die seelischen Auswirkungen dieser grandiosen Selbstermächtigung des Menschen, die möglichen Veränderungen seiner Stellung in der Natur, die abermalige Revision seines Verhältnisses zur Schöpfung. Richard Powers, der in seinem literarischen Werk immer wieder aktuelle naturwissenschaftliche Grenzfragen, beispielsweise der Hirnforschung, verarbeitet hat, bekam daher in guter angelsächsischer Tradition von einer großen Zeitschrift, in diesem Fall "Gentlemen’s Quarterly", den wohldotierten Auftrag, seine persönlichen Erfahrungen mit der Genomanalyse aufzuschreiben.

Powers begann im vorletzten Frühjahr damit, sich einen Überblick über die verschiedenen kommerziellen Angebote zu verschaffen: Zwischen ein paar hundert und einer Drittelmillion Dollar sollte die sogenannte Sequenzierung des menschlichen Genoms seinerzeit kosten, inzwischen sind die Preise so dramatisch gesunken wie die Anzahl der einschlägigen Firmen und Webseiten zugenommen hat. Powers war damals 51 Jahre alt, das heißt in einem Alter, in dem man sich für sein medizinisches Schicksal besonders intensiv und meistens nicht ganz angstfrei interessiert. Diese etwas nervöse, bange und zugleich neugierige Grundhaltung durchfärbt den ganzen Bericht, getreu dem schönen Satz:

"Neugier ist nichts weiter als Misstrauen unter dem Einfluss von Endorphinen."

Powers war der neunte Mensch, dessen Genom auf kostspielige Weise vollständig entschlüsselt wurde. Vollständig heißt: sechs Milliarden Gen-Bausteine, von denen sich jeweils 10 bis 15 000 zu einem sogenannten Gen zusammenfügen. Rund 22 000 Gene hat der Mensch. Das alles scheinen präzise Angaben zu sein, aber erklärt ist damit gar nichts. Denn wie in Douglas Adams lustigem Science-Fiction-Roman "Per Anhalter durch die Galaxis", wo der Supercomputer nach langer Rechnerei die Weltformel ausspuckt, welche "42" lautet, was aber niemand verstehen kann, weil keiner die Frage kennt, die mit dieser Zahl beantwortet wird, so spannt sich auch in Sachen Genanalyse zwischen Daten und Deutungen ein weites Nebelfeld.

Aber die Forschung schreitet mit rasantem Tempo fort, und es ist nicht ausgeschlossen, dass sich der Nebel alsbald lichtet. Davor packt auch Powers ein gewisser Schauder.

"Auf dem Rückweg zum Hotel überlege ich, ob wir denn wirklich bereit für ein Leben sind, in dem wir all unsere genetischen Risiken und Charakteranlagen genau kennen; ob wir wirklich so weit sind, dass wir unser Erbe dermaßen publik machen können, unsere Daten in den großen Informationsfluss der genetischen Erkenntnis einspeisen."

Noch am Abend vor der Blutabnahme schreckt er vor dem entscheidenden Schritt zurück und möchte das ganze Projekt stoppen. Aber am nächsten Morgen lässt er sich doch darauf ein – auf ein, wie der Obersequenzierer George Church sagt,

"Experiment, bei dem es um die Frage geht, wie es uns verändert, wenn wir mehr über uns wissen". "

Dieses Wissen kann sehr belastend sein. Powers musste vorher per Unterschrift bestätigen, dass er sich darüber im Klaren ist. Das Belastungsmaterial wurde ihm ein paar Wochen später in Form eines vier Gigabyte großen Datenchips überreicht sowie einer Liste seiner Gen-Anomalien. Hat er eine Neigung zu ALS, Morbus Crohn oder Schizophrenie? Muss er mit einer frühen Alzheimer-Erkrankung rechnen? Besteht ein erhöhtes Risiko, von Prostata-, Blasen- oder Lungenkrebs befallen zu werden? Powers beschreibt sehr schön die Dynamik, die im Sich-Gedanken-Machen liegt. Sein Buch ist weniger eine Wissenschaftsreportage als ein großer innerer Monolog des modernen Menschen.

""Der Literaturwissenschaftler Peter Brooks schreibt in seinem Buch Reading for the Plot, "‘unser Hauptwerkzeug, eine Erzählung zu verstehen, ( ... )’ sei die "vorweggenommene Rückschau". Seite eins bedeutet nur deswegen das, was sie bedeutet, weil wir schon wissen, dass Seite 300 sie für immer verändern wird. Das ganze Frühjahr und den ganzen Sommer vertiefe ich mich in den Alltag, versuche mein Leben zu leben, weil ich ja weiß, dass mit der nächsten umgeblätterten Seite die ganze Geschichte eine völlig neue Wendung nehmen kann. Ich frage mich, ob die Ankunft meines persönlichen Genoms wohl einen jener grässlichen Leser aus mir machen wird, die in Buchläden umherstehen und die letzten Seiten eines Buches lesen, um zu entscheiden, ob der Kauf sich lohnt."

Die Offenbarung seines Lebens-Textes fällt relativ gelinde aus, ernüchternd und tröstlich zugleich: ein Todesurteil ohne Vollstreckungsdatum – wie für jeden von uns. Das Weiterleben vollzieht sich auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeiten, von denen man sich bloß nicht überwältigen lassen darf. Die Individualgenomik ist eben

"nur die logische Fortsetzung jener gewaltigen Dunstglocke des Risikomanagements, unter der wir nun schon seit einer ganzen Weile leben."

Ein alter Medizinerspruch für solche Fälle lautet: Wer viel misst, misst viel Mist.


Richard Powers: "Das Buch Ich # 9. Eine Reportage"
Verlag S.Fischer, Frankfurt/2010
Richard Powers: Das Buch Ich # 9. Eine Reportage
Richard Powers: Das Buch Ich # 9. Eine Reportage© S. Fischer Verlag
Mehr zum Thema