"Ein Glücksfall für die Bundesrepublik"

Moderation: Katrin Heise · 20.02.2012
Großes Lob für den Kandidaten: Als Präsident werde sich Joachim Gauck zwischen Weizsäcker, Heinemann und Heuss einordnen - und damit "ganz oben an der Spitze", glaubt der Historiker Hans-Ulrich Wehler.
Katrin Heise: Joachim Gauck, ehemaliger Bürgerrechtler und erster Leiter der Stasiunterlagenbehörde, ist einziger Kandidat von CDU, CSU, FDP, SPD und den Grünen für das Bundespräsidentenamt. Und er wurde, wie wohl wir alle, von der schnellen Einigung auf seine Person überrascht, sodass er sich nicht mal vor seinem Fernsehauftritt am späten gestrigen Abend frisch machen konnte, wie er der versammelten Presse mitgeteilt hat. Aber aus seiner Verwirrung und Überwältigung wollte Gauck auch gar keinen Hehl machen. Ich begrüße jetzt den Historiker Hans-Ulrich Wehler, schönen guten Morgen, Herr Wehler!

Hans-Ulrich Wehler: Guten Morgen!

Heise: Wir Deutschen sollen wieder erkennen, in was für einem guten Land wir leben, dass wir lieben können. Daran möchte er arbeiten, das hat Joachim Gauck in der ersten Pressekonferenz gestern Abend gesagt. Eine Aufgabe, Herr Wehler, die Sie auch als vorrangig sehen?

Wehler: Es gibt mehrere Aufgaben, die ihm zukommen, aber zunächst will ich zum Kontext sagen, das ganze Theater war keine Systemkrise. Die Bundesrepublik und ihre Institution haben sich in einer Art von Selbstreinigungsprozess dazu durchgerungen, den meines Erachtens optimalen Kandidaten vorzuschlagen. Das war nicht so schnell zu erwarten, weil Frau Merkel ja heftig opponiert hat, denn mit Gauck kommt ein ostdeutscher Politiker an die Spitze des Staates, der ihr rhetorisch und was Eloquenz angeht überlegen ist, und er wird seine Zuhörer finden.

Aufgrund der Lebensgeschichte von Gauck wird er großen Wert darauf legen, auf das hinzuarbeiten, was man sozusagen eine Versöhnung von Öffentlichkeit und Politik nach dem Debakel vor allem der letzten Wochen nennt. Und ich glaube, das wird ihm gelingen.

Heise: Denn das Vertrauen der Bürger – Sie sagen jetzt, Systemkrise nein –, aber das Vertrauen der Bürger in die politische Klasse hat ja gelitten. Also womit, denken Sie denn, kann Gauck, der sich ja eben als Reisender in Sachen Demokratie bezeichnet hat, womit kann er uns das Vertrauen wiedergeben?

Wehler: Also ich habe Gauck in den 20 Jahren, in denen er in der westdeutschen Öffentlichkeit aufgetaucht ist, genau verfolgt und auch in Berlin mal kennengelernt. Das ist ein Mann, der eine ausgesprochene rhetorische Begabung hat, und das ist in der Politik ein Talent, mit dem man ziemlich lange Zeit wuchern kann. Und ich glaube, dass Gauck da eben dieses Talent hat, Formulierungen zu finden, mit denen er auf sein Publikum zugeht und es für seine Position gewinnen kann.

Wulff war ja auch ein erfahrener Berufspolitiker, aber ihm fehlte in seiner etwas trockenen Art – von seinen Fehlern jetzt mal ganz abgesehen – fehlte ihm doch die Begabung sozusagen, objektiv, effektiv werbend auf ein Publikum zuzugehen und es für sich zu gewinnen. Das habe ich nun bei Gauck mehrfach erlebt, und ich glaube, dass das geradezu ein Glücksfall für die Bundesrepublik ist, dass ein Mann wie Gauck diese Position gewinnen wird.

Heise: Gauck steht ja besonders für einen aktiven Demokratiebegriff. Er sprach sich auch gleich für die Verantwortung aus, die jeder für sein Land übernehmen sollte, also Demokratie lässt sich nicht konsumieren – wird er Bürgerbeteiligung vorantreiben, sollte er das tun in Ihren Augen?

Wehler: Ja, ich glaube, das ist seine Tendenz, das ist seine Lebenserfahrung, dass man mit einer Menge von Zivilcourage, die er in der verblichenen DDR bewiesen hat, aber auch in den Jahren danach, als er sich immer wieder politisch durchzusetzen versucht hat. Ich glaube, dass er diese Fähigkeit besitzt, für seine Position sozusagen, an einem aktivierten demokratischen Leben teilzunehmen, dafür intensiv zu werben. Also ich warte mit großer Spannung auf seine ersten zwei, drei Reden, in denen er sich einklinken wird in den politischen Betrieb der Bundesrepublik. Aber sozusagen mein Vertrauensvorschuss hat er, dass er auf diese aktive demokratische Teilnahme glaubwürdig setzen wird, weil ihm das ja auch in seinem eigenen Leben gelungen ist.

Heise: Jetzt wollte Angela Merkel mit ihrem vorherigen Kandidaten Christian Wulff die Jüngeren in Deutschland auch ansprechen, die Familien einbinden, Modernität ausstrahlen, mit Gauck steht jetzt ein Mann der gelebten deutschen Geschichte vor uns, weniger eigentlich der Modernität. Ist das tatsächlich zurzeit wichtiger?

Wehler: Ja, ich würde das jetzt nicht mehr als Alternative sehen, nachdem das Ehepaar Wulff sozusagen aus dem Betrieb ausgeschieden ist. Insgesamt, wenn Wulff nicht seine eklatanten Fehler begangen hätte, wäre es in der Tat ein Gewinn gewesen, ein junges Ehepaar in den repräsentativen Aufgaben des Staates zu sehen. Gut, das ist nun nicht der Fall, aber Gauck hat ja die Fähigkeit – man muss nur die Gesichter beobachten, wenn die Fernsehkameras über sein Publikum schweifen –, ein Publikum von ganz unterschiedlicher Alterszusammensetzung für seine Argumente zu gewinnen. Und dann hat er auch die sehr oft bei guten protestantischen Pfarrern geschulte Rednerbegabung, eine Sprache zu finden, die auch bei einem Publikum unmittelbar ankommt.

Heise: Gedanken über den Bundespräsidenten und seine Aufgabe macht sich im Deutschlandradio Kultur der Historiker Hans-Urich Wehler. Herr Wehler, Sie haben eben die Protestanten erwähnt, seit Freitag, seit dem Rücktritt wurden ja Namen verschiedenster Personen diskutiert, auffällig war eben die Vielzahl der Protestanten, der Theologen auf dieser Liste, also Gauck, von dem Bischof Huber war die Rede, Bischöfin Käßmann stand in Rede, Katrin Göring-Eckardt, Präses der Synode der evangelischen Kirche war auch auf der Liste. Wie werten Sie das, ist das sozusagen der Gegenentwurf zur politischen Klasse, den wir momentan brauchen?

Wehler: Ich glaube, das sind eher Zufallsentscheidungen. In den 80er-, 90er-Jahren setzte sich ja statistisch gesehen die katholische Bevölkerung der Bundesrepublik durch, die lag etwas über dem Anteil der protestantischen Bevölkerung. Nun, eine der ganz fatalen Folgen der SED in der DDR war ja die Entchristianisierung der Bevölkerung, und als dann die Ostdeutschen wieder durch die Wiedervereinigung hinzukamen, war das ein relativ geringer Gewinn von vielleicht zehn, zwölf Prozent für die Protestanten. Rein statistisch gesehen sind sie jetzt in dem Gesamtdeutschland der 80, 82 Millionen Menschen wieder die knappe Mehrheit. Aber dass genau in diesem Augenblick, wo das statistisch der Fall ist, eine ganze Reihe von durchaus attraktiven protestantischen Politikern sozusagen in das Gespräch gekommen ist, das halte ich in gewisser Hinsicht für einen Zufall, aber die Predigt des Papstes gegen die Entweltlichung der Kirche, da ist natürlich auf der protestantischen Seite genau der entgegengesetzte Prozess, nämlich sich für ein Gemeinwesen einzusetzen, in dem sich auch protestantische Ziele durchsetzen lassen. Also der Bischof Huber wäre natürlich ein klassisch guter Kandidat gewesen.

Heise: Sie haben eben auf die Gesellschaft abgehoben, katholisch und evangelisch gegeneinandergestellt. Jetzt hatte sich Wulff ja das Thema Integration zu seinem Anliegen gemacht, Gauck hat sich da auf dem Feld überhaupt eigentlich gar nicht weiter geäußert. Jetzt kann er und muss er da nicht auch weitermachen, was dieses Thema angeht, Integration in unserer Gesellschaft?

Wehler: Ja, ich glaube, Gauck hat eine ganze Palette von Themen vor sich. Er wird aufgreifen das Demokratieproblem, die Versöhnung von Öffentlichkeit und politischer Klasse, er wird auch den Mut haben, zum Griechenlandproblem und zur Eurokrise zu sprechen, also er ist ein durchaus vielseitiger Mann – die Themen liegen ja gewissermaßen auf der Hand, sie müssen nur aufgegriffen werden. Und eins dieser Themen ist die Integration, und da ist nun Gauck, glaube ich, aufgrund seiner Lebenserfahrung der Allerletzte, der das nicht positiv aufgreifen wird.

Heise: Er wird sich sicherlich häufig auch gegen die Parteienpolitik wenden, die ansonsten gemacht wird. Er wird sicherlich häufig Widerstand einfordern beziehungsweise auch anbringen. Wenn Sie die Reihe der Bundespräsidenten Revue passieren lassen, wo würden Sie Gauck da einordnen?

Wehler: Also ich war ein ganz guter Sportler, 1949 wurde ich zum Bundessportfest eingeladen, mit dem die Gründung der Bundesrepublik gefeiert wurde. Und weil ich da fast gewonnen hätte, wurde ich dann von dem Bundespräsidenten Heuss empfangen, und er schüttelte mir die Hand und sagte zu meinem Erstaunen: Nun lauft mal schön für unsere Republik. Mir lag damals an einer besseren Zeit über 800 Meter, aber ich habe von diesem Augenblick an ganz genau die politische Entwicklung der Bundesrepublik verfolgt, und ich würde jetzt von vornherein sagen, zwischen den beiden Spitzenkandidaten Weizsäcker, Heinemann und wenn man so will auch noch Heuss wird Gauck ganz oben an der Spitze rangieren.

Heise: Ein weiter Blick zurück auf das Amt des Bundespräsidenten warf der Historiker Hans-Ulrich Wehler. Herr Wehler, vielen Dank für das Gespräch und einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch!

Wehler: Ich danke Ihnen auch!

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Hans-Ulrich Wehler
Der Historiker Hans-Ulrich Wehler© Deutschlandradio