Ein Gespenst geht um

Rezensiert von Ilko-Sascha Kowalczuk · 18.04.2010
David Priestland ist das Kunststück gelungen, eine "Weltgeschichte des Kommunismus" von 1789 bis zur Gegenwart zu schreiben. Niemals langweilig, niemals ideologisch und dabei so faktenreich, dass wohl fast jeder daraus Nutzen ziehen kann.
Ein weithin bekannter Witz im Ostblock lautete: "Was ist am schwersten am Kommunismus vorherzusagen?" Die Antwort: "Seine Vergangenheit!" Dieser Witz reagierte auf die Erfahrung, dass die Vergangenheit ständig den aktuellen Herrschaftsansprüchen der Kommunisten angepasst wurde. Und wer Ende 1991, als die Sowjetunion aufgelöst wurde, glaubte, der Kommunismus sei nun endgültig Geschichte, musste sich in den fast 20 Jahren seither ständig eines Besseren belehren lassen. Der Tote ist nicht tot – überall auf der Welt wird mit ihm Politik gemacht: sei es als Vision, sei es als Nostalgiereservoir, sei es als Bedrohungsgespenst, sei es als reale Macht wie in Nordkorea oder Kuba. Da tut es gut, ein Kompendium zur Hand zu haben, das wissenschaftlich, rational, quellennah, im besten Sinne historisierend ist. Dabei wie ein Lesebuch unterhaltsam. Abseits von Plattitüden und ungemein gelehrt, Kommunismus als Theorie, Vision und historischer Realität sezierend.

David Priestland ist das Kunststück gelungen, eine "Weltgeschichte des Kommunismus" von 1789 bis zur Gegenwart zu schreiben. Niemals langweilig, niemals ideologisch und dabei so faktenreich und empirisch weit ausgreifend, dass wohl fast jeder daraus ungemein viel Nutzen ziehen kann. Historisch wenig Bewanderte werden sich über die vielfältigen Strömungen und Schattierungen des Kommunismus in den letzten 200 Jahren wundern. Wissenschaftliche Spezialisten wiederum werden Priestlands außergewöhnliche Kenntnisse zu schätzen wissen, die auch ihnen Unbekanntes darbieten, wenn er etwa Filme, schöngeistige Literatur oder realhistorische Vorgänge aus zahlreichen Ländern mehrerer Kontinente nicht nur zur Illustration, sondern zur eigentlichen Analyse heranzieht.

Der Autor historisiert den Kommunismus – wobei sich die Singularform spätestens nach Priestland fast von selbst verbietet, so vielschichtig und vielfarbig wird Kommunismus dargestellt. Er versucht Antworten auf die Entstehung des Kommunismus zu finden sowie seine lang andauernde Anziehungskraft für nicht wenige Menschen in der ganzen Welt. Auch wenn er seine Abhandlung mit der Französischen Revolution von 1789 fast herkömmlich beginnen lässt, so besteht die Faszination dieses Werkes darin, dass zugleich eine spezielle Weltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts verfasst wird. Priestland verortet die Ideen und die konkrete kommunistische Praxis stets in größeren globalen Zusammenhängen.

So gerät seine Darstellung nicht zu einer neuerlichen Abrechnung, sondern zu einer ungemein anregenden Analyse der historischen und aktuellen Debatte über das Verhältnis von "Freiheit", "sozialer Gerechtigkeit" und "Gleichheitsvorstellungen". Gerade weil er sowohl in den Abschnitten über das 19. wie über das 20. Jahrhundert theoretische Debatten und realhistorische Vorgänge miteinander in Bezug setzt, kommt er dem Kommunismusphänomen weitaus näher auf die Spur als die meisten seiner Vorgänger. Er verliert sich nicht in Details, bietet davon aber überraschend viele aus der "Weltgeschichte des Kommunismus". Sein Schwerpunkt liegt auf dem europäischen Sowjetkommunismus. Dessen Darstellung bis in die Gegenwart erfasst praktisch alle wesentlichen theoretischen und realen Entwicklungen weltweit.

Es ist unmöglich, dieses großartige Werk auch nur in seinen wichtigsten Punkten wiederzugeben. Mir ist es nicht gelungen, besonders einschlägige Zitate auszuwählen, weil es davon so viele gibt, dass jedes einzelne wie eine Abwertung des Gesamtwerkes wirken müsste. Selten habe ich so ein kompaktes und in sich schlüssiges Buch gelesen. Vielleicht besteht die wichtigste Leistung des Autors darin, einerseits den historischen Aufstieg und Niedergang des Kommunismus strikt historisch darzustellen und dabei andererseits das Kunststück fertig zu bringen, den Kommunismus als einen der großen modernen Irrwege des 20. Jahrhunderts darzustellen. Natürlich fehlt es nicht an deutlichen Positionierungen etwa zu den Massenverbrechen in vielen Ländern der Welt. Aber weil Priestland in bester historiografischer Tradition erklären und erzählen will, entwickelt sein Werk eine Suggestionskraft, der sich wohl auch – sollten sie das Buch überhaupt zur Hand nehmen - bekennende Kommunisten zunächst kaum entziehen könnten.

Gerade weil Priestland den engen Zusammenhang zwischen sozialer Ungerechtigkeit und kommunistischen Gleichheitsphantasien zu seiner Leitfrage erhebt, entfaltet sein Buch auch eine Bedeutung für aktuelle Debatten. Zugleich kennzeichnet er die realen kommunistischen Machttechniken als ungerecht und gegen die Gleichheitsutopie gerichtet. Am Ende seines Buches schreibt der Autor, der Untergang des Kommunismus, die Revolutionen gegen den Kommunismus bedeuteten nicht den Sieg der herrschenden westlichen Gesellschaftsordnung. Nur die weitere Suche nach einer gerechten Weltordnung, nach sozialer Gerechtigkeit und dem Abbau der globalen Hierarchien, könnten einen neuerlichen Aufschwung kommunistischer Ideen verhindern.

David Priestland: Weltgeschichte des Kommunismus. Von der Französischen Revolution bis heute
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Siedler Verlag, München 2009
Cover: "David Priestland: Weltgeschichte des Kommunismus"
Cover: "David Priestland: Weltgeschichte des Kommunismus"© Siedler Verlag