Ein Geheimdiplomat

Rezensiert von Tilman Krause · 04.04.2010
Norbert Leithold hat mit "Graf Goertz, der große Unbekannte" die erste Biografie über den Geheimdiplomaten geschrieben. Er galt als großer Staatsmann in der Goethezeit.
"Liebe Freundin, ich habe soeben ,Prometheus’ gelesen, das ist eine Unflätigkeit, die man nicht einen Augenblick lesen kann, es ist mir ein Gräuel. Dieser Goethe ist ein Knabe, ein Knabe, dem man täglich Besserung mit der Rute geben sollte."

Nein, sie waren keine Freunde. 1775 nicht, als Goethe, 26 Jahre jung, nach Weimar kam und als jene Zeilen geschrieben wurden. Und auch später sollten sie sich nicht näher kommen, der flamboyante Verfasser des Bestsellers "Die Leiden des jungen Werther", der schon bald am Hofe Carl Augusts, Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, auch politisch eine große Rolle spielen sollte, und Graf Goertz, Verfasser der zitierten Sätze, der gewissermaßen als Prinzen-Erzieher des noch unmündigen Carl August Goethes Vorgänger war. Goethe blieb lebenslang ein Hassobjekt für Goertz, hatte der Dichter ihn doch vom Hofe zu Weimar verdrängt. Das war bekannt.

Was nicht bekannt war, weil man die Wege des Grafen Goertz nicht weiter verfolgt hat, ist die Tatsache, dass er später andernorts sehr wohl Karriere machte. Wie jetzt Norbert Leithold in seinem materialreichen Buch über diesen exzellenten Geheimdiplomaten schreibt, wurde der Graf einer der wichtigsten Emissäre Friedrichs des Großen. Goertz ist der geistige Vater des sogenannten "Fürstenbundes", mit dem der Alte Fritz eine Allianz der norddeutsch-protestantischen Reichsfürsten gegen den Kaiser in Wien zu schmieden versuchte.

Goertz hielt die diplomatischen Fäden bei Preußens Intervention in der Frage der bayerischen Erbfolge in der Hand, die in den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts das Thema in der hohen Politik für Deutschland war. Und Goertz vermochte sogar noch gegen Napoleon zu agitieren in einer Zeit, als Preußen in der Hand des größenwahnsinnigen kleinen Korsen war. Darüber hinaus darf Goertz als einer der am besten gebildeten und informierten Köpfe im ausgehenden Absolutismus gelten.

Letzteres geht vor allem aus seiner umfänglichen Korrespondenz hervor. Tausende Briefe von Graf Goertz an seine Frau, die "liebe Freundin", und vice versa haben sich erhalten. Nur schlummerten sie unentdeckt in staubigen Archiven. Bis Norbert Leithold kam und den Schatz hob. Verständlicherweise zitiert er viel daraus in dieser Studie, die diesen Quellen alles verdankt.

Leider bläht der Autor das Buch aber unnötig auf, indem er auch ausführlich auf die Geschichte dieses Fundes eingeht, auf seine Anstrengungen, die vergilbten Papiere für die Forschung fruchtbar zu machen und nebenbei auch noch die Restaurierung der im Brand der Anna-Amalia-Bibliothek beschädigten Dokumente erzählt. Da gleitet der Text oftmals in Heimwerker-Prosa ab.

Doch das sollte niemanden hindern, sich mit dem "Großen Unbekannten" zu beschäftigen. Denn abgesehen davon, dass hier eine interessante Figur des Ancien Régime wieder lebendig wird, werfen die hier versammelten Briefe Licht auf eine spannende Affäre, bei der man seit über 200 Jahren im Dunklen tappt.

Gemeint ist die verwickelte Beziehung zwischen Goethe und der berühmten Frau von Stein sowie, seinerzeit nicht minder berühmt, der Herzoginmutter und Erfinderin des Weimarer Musenhofes, Anna Amalia. Wie man jetzt, nach Leitholds Erkenntnissen, mit einiger Sicherheit annehmen darf, hatte Goethe mit beiden Damen ein Verhältnis - und zwar zur gleichen Zeit.

"Anna Amalia leistete sich für eine gewisse Zeit den Liebhaber Goethe, den Popstar seiner Zeit. Von Anna Amalia sind bislang keine Zeugnisse ihrer intimen Beziehung zu Goethe bekannt - und wohl auch nicht mehr zu erwarten, dazu achtete die Herzogin zu sehr auf das höfische Reglement. Die Herzogin hielt zeitlebens schützend ihre Hand über Goethe, sie hatte den Dichter überhaupt erst in Weimar ermöglicht und am Kaiserhof in Wien dessen Erhebung in den Adelsstand betrieben.

Anna Amalia dachte und handelte aber bei alledem stets politisch, und das Familienunternehmen Herzogtum stand im Mittelpunkt ihres Tuns. Sie instrumentalisierte Goethe folglich auch für ihre politischen Zwecke."

Stimmt man dieser These zu, erhält mit einem Mal Goethes Flucht nach Italien 1786 eine ganz neue Plausibilität. Es muss eine ungeheure seelische Zerreißprobe für den selbstbewussten Bürgersohn gewesen sein, was er ein volles Jahrzehnt lang in Weimar erlebte. Er, der sich mit Hofluft schwer genug tat, wurde zum politischen und sogar zum erotischen Spielball zweier hochmögender Damen, von denen letztlich keine für ihn als wirkliche Partnerin in Betracht kam.

Noch dazu versuchte die kaiserlich orientierte Herzoginmutter immer wieder, einen Keil zwischen Goethe und seinen Freund und Dienstherren Carl August zu treiben, der es mit Preußen hielt.
Goethe saß wirklich in mehrfacher Hinsicht zwischen den Stühlen, und was ihm anfangs geschmeichelt haben mag, wurde ihm zunehmend zur Last - einer Last, über die er noch dazu zu niemandem sprechen konnte. Die Geschichte von Goethes erstem Weimarer Jahrzehnt wird nach Leitholds bemerkenswerten Funden umgeschrieben werden müssen.


Norbert Leithold: Graf Goertz, der große Unbekannte. Eine Entdeckungsreise in die Goethezeit
Osburg Verlag, Berlin 2010
Cover: "Norbert Leithold: Graf Goertz, der große Unbekannte"
Cover: "Norbert Leithold: Graf Goertz, der große Unbekannte"© Osburg Verlag