"Ein Gast im Haus, Gott im Haus"

Steffen Möller im Gespräch mit Katrin Heise · 08.06.2012
Fußball sei in Polen sehr beliebt, aber in den letzten 20 Jahren hätten einfach die Erfolge gefehlt, sagt Steffen Möller. Der Kabarettist hat ein Buch mit EM-Reisetipps geschrieben. Auch die deutsche Nationalmannschaft hat er auf die EM eingestimmt und mit ihr "ein paar wichtige Worte geübt".
Katrin Heise: Steffen Möller, in Wuppertal geboren, hat eigentlich Philosophie und Italienisch studiert, geriet aber 1993 in einen Sprachkurs nach Polen und kam dann irgendwie nicht mehr los davon. Wanderte nach Polen aus und hilft nun mit Kabarettprogrammen und Büchern dem gegenseitigen Verständnis von Polen und Deutschen auf die Sprünge. Ich grüße Sie, Herr Möller!

Steffen Möller: Hallo!

Heise: Was ist denn jetzt eigentlich dran an diesem Gerücht? Polen würden lieber Pilze sammeln als Fußballer anfeuern?

Möller: Ja, das ist meine persönliche Theorie. Fangen wir mal damit an, dass in Warschau das neue Nationalstadion ja einzigartig ist. So was haben Sie noch nie gesehen. Das hat oben, ringsrum, weiß-rotes Flechtwerk, das ist irgendwie aus Metallpaneelen. Rot-Weiß, das sind die polnischen Farben, und warum der Weidenkorb? Alle wollen es wissen.

Heise: Das sieht aus wie ein Weidenkorb?

Steffen Möller: Ja, es sieht aus wie ein Weidenkorb. Und meine Theorie ist, weil es erinnert an Pilze sammeln. Denn man geht mit Weidenkörbchen in den Wald. Ein Pole, der zwischen Juni und Oktober nicht mit einem Weidenkörbchen durch die Wälder streift und Pilze sammelt, der ist so seltsam wie ein Deutscher, der beim EM-Finale auf Arte umschaltet.

Was hat Lech Walesa gemacht, 1980, als er die Nachricht bekam in Danzig, dass er den Friedensnobelpreis bekommt? Er hat gesagt: Lasst mich alle in Ruhe. Nahm sein Weidenkörbchen und ging in den Wald, Pilze sammeln.

Heise: Das ist aber doch schön, dass man jetzt mit dem Stadion auch die Pilzesammler so quasi eingesammelt hat. Das heißt, es gibt dann doch eine Fußballseele in Polen?

Möller: Natürlich sind die Polen Fußballfans, klar. Fußball ist überall die Nummer eins, aber in den letzten 20 Jahren haben die Erfolge gefehlt. Polen war mal sehr erfolgreich, 1982, Dritter bei der EM, aber danach kam eigentlich nichts mehr. Und als dann die Nachricht kam 2007, dass Polen die EM ausrichten soll mit der Ukraine, da hat eigentlich keiner geglaubt, was, wir? Wer will denn freiwillig nach Polen?

Also da kam dieser polnische Pessimismus raus. Und jetzt hat sich das aber schlagartig gewandelt, muss ich sagen. In den letzten Tagen ist Warschau voller weiß-roter Wimpel. Ich war jetzt gerade in Danzig, auch, alle Autos voll, also, jetzt geht's los.

Heise: Jetzt geht's los. Und ich meine, man kann doch auch einiges erwarten von der Mannschaft jetzt, oder.

Möller: Ja. Sie gelten ja bei manchen Leuten sogar als Geheimfavorit. Nur die Polen selbst glauben nicht so richtig daran. Es gibt da so einen Spruch: Die drei polnischen Matche. Im ersten Match geht es noch um alles, und dann in Klammern, aber wir verlieren. Im zweiten Match geht es noch um die Ehre, in Klammern, wir verlieren trotzdem, und im dritten Match, da geht es nur noch um die Petersilie.

Heise: Das ist also tatsächlich, an dieser Einstellung dem Fußball gegenüber doch einiges scheinbar festzumachen von der polnischen Seele, oder?

Möller: Absolut. Also ich weiß nicht, ob Sie gehört haben, Miro Klose hat in einer Pressekonferenz gesagt auf die Frage, ob er nicht mit 34 Jahren nun doch etwas alt sei: Ja, ich werd's irgendwie noch, ich bin noch fit, fühl mich gut und werd meinen alten Kadaver noch eine Weile rumschleppen.

Das ist dieser typische Sarkasmus. Das hat mich erinnert an ein Plakat, das ich vor kurzem in Warschau in einem Studentenwohnheim gesehen habe, das hatte der Hausmeister aufgehängt: Morgen um 17 Uhr kommt der Kammerjäger. Und darunter hatte ein Student geschrieben: Und um 18 Uhr kommen die Kakerlaken zurück. Das ist genau dieser Humor.

Heise: Ich habe eben vom Stolz auf die EM gesprochen. Beschreiben Sie doch mal, was Sie so beobachten. Ich meine, abgesehen von den Wimpeln, was bedeutet diese Ausrichtung der EM tatsächlich für die Polen. Will man da vielleicht auch den Deutschen beweisen, so perfekt wie Ihr kriegen wir das schon lange hin?

Möller: Nee, also, in Sachen Organisation wollen die Polen, glaube ich, nicht konkurrieren. Sie halten sich dafür für die besseren Tänzer, für die charmanteren Liebhaber und so weiter. Aber sicher, das habe ich auch der Mannschaft gesagt am Montag, ich glaube, von den 13 Teams, die jetzt in Polen ihr Quartier haben, werden die Deutschen schon mit dem größten Interesse verfolgt. Vielleicht nicht mit der größten Liebe, das nicht. Das sind irgendwelche Südländer, Spanier vielleicht. Weil die Polen sich selbst ja auch gerne so als die Italiener des Ostens sehen.

Aber ich glaube doch, wir Deutsche, wir sind nun mal das größte Land in Europa und wir sind die Nachbarn und es gibt da noch einiges aufzuarbeiten. Also, ich glaube, hat man auch im Stadion gemerkt dann, beim ersten Training. 11.000 Leute haben wirklich begeistert da gefeiert, muss man sagen.

Heise: Am vergangenen Montag, als Podolski auch noch seinen 27. Geburtstag hatte, das war ja geradezu rührend, was sich da abspielte. Sie haben gerade das Selbstbewusstsein angesprochen. Polen strotzt doch eigentlich also wirtschaftlich vor allem geradezu vor Selbstbewusstsein. Wie verändert das eigentlich die Menschen? Sie sind da ja nun schon seit 20 Jahren, haben so auch die ganzen Veränderungen auch mitgekriegt.

Möller: Ja. Wenn ich mir Warschau angucke, 1994, als ich rüber kam, da fuhr noch dann und wann ein Pferdefuhrwerk durch. Heute ist Warschau - in Warschau wird gerade eines der modernsten Hochhäuser, ein Wolkenkratzer gebaut, von Daniel Libeskind, dem Stararchitekten, und ich meine, auch sonst in Polen geht es zurzeit überall bergauf. 20 Milliarden Euro Investitionen jetzt im Vorfeld.

Sie müssen sich mal vorstellen, was da gerade los ist. Da wird nicht nur eine Autobahn gebaut, die A2 von Berlin nach Warschau, die ist fast fertig. Da werden drei Bahnhöfe neu aus dem Boden gestampft, in Posnan, in Katowice und in Lodz. Das muss man sich vorstellen wie dreimal Stuttgart 21.

Heise: Auch mit den Protesten?

Möller: Nee. Im Gegenteil, mit Jubel.

Heise: Steffen Möller, der bekannteste Deutsche in Polen über die polnische Ausprägung von Fußballfieber und jetzt mit Tipps für Polen-Reisende. Die haben Sie, Herr Möller, ja schon der Nationalmannschaft, der deutschen Nationalmannschaft gegeben. Sie waren ja am Montag mit denen zusammen. War das tatsächlich ernstgemeint, Tipps, wie verhalte ich mich, wo komme ich hier hin?

Möller: Ja, ich hatte so einen kleinen Auftritt. Oliver Bierhoff hatte mir gesagt, ich soll in der Lounge am Frankfurter Flughafen zehn Minuten die Mannschaft einstimmen. Ich hab kurz erzählt von der Stimmung in Polen. Dann habe ich mit den Spielern zusammen kurz ein paar wichtige Worte geübt.

Heise: Aber einige kennen die doch auch schon, oder?

Möller: Ja gut, klar, klar, Klose und Podolski ...

Heise: ... konnten dann soufflieren. Ja, was haben Sie denen beigebracht?

Möller: Guten Tag mal als Erstes, dzien dobry. Haben alle Spieler dann im Chor wiederholt. Dann wie geht's: Jak tam.

Heise: Jak tam.

Möller: Ganz simpel. Und dann sagt man nicht super, wunderbar, fantastisch. Diese Heuchelei bei uns, die mir immer so auf den Keks geht, sondern man sagt das so ein bisschen wie im Ruhrgebiet, na, wie is et? Wie soll es sein? Et muss! Und die Polen sagen es noch härter, die sagen, wie geht es: Oh, stada bieda, die alte Armut. Stada bieda.

Das ist dieser, was - der Optimist in Polen sagt: Ah, Leute, das hat doch alles keinen Sinn. Morgen kommen die Russen und deportieren uns nach Sibirien. Daraufhin sagt der Pessimist: Was quatschst du doch wieder, deportieren? Zu Fuß müssen wir laufen.

Heise: Also sind die ja bestens vorbereitet jetzt. Das kann man ja gar nicht anders sagen.

Möller: Absolut.

Heise: Das heißt, man will da auch so ein bisschen in die, vielleicht, Völkerverständigung reingehen. Sie haben ja ein neues Buch auf dem Markt gerade, "Expeditionen zu den Polen" heißt das. Dafür sind Sie - Sie natürlich nicht das erste Mal, aber eben dann für das Buch dann doch mal so richtig - mit der Bahn von Berlin nach Warschau gefahren. Ist das eigentlich auch so ein Rat an die ganzen deutschen Fans, die sich ja dann irgendwie jetzt zu den Spielen auf den Weg machen? Bloß nicht mit dem Auto nach Polen fahren?

Möller: Moment. Ich sage ganz im Gegenteil, man kann ruhig mit dem Auto nach Polen fahren, denn die Diebstahlquote ist in den letzten zwölf Jahren um 75 Prozent gesunken.

Heise: Nein, ich meine natürlich, weil es insgesamt entspannter ist.

Möller: Ja, absolut, genau. Also ich selber fahre, ich wohne ja in Warschau und in Berlin gleichzeitig, fahre zweimal im Monat hin und her. Und ich fahre immer mit diesem ganz besonderen Zug, diesem Eurocity-Zug, der viermal am Tag von Berlin nach Warschau fährt, sechs Stunden lang. Und ich sitze in meinem Speisewagen, und ich glaube, das ist eine ideale Einstimmung auf das Land. Man sieht die Landschaft, wunderschöne Landschaft, man sieht die größte Christus-Statue Europas, höher als Rio de Janeiro, direkt an der Bahn kurz vor Posnan in Swiebodzin, es ist ein kleiner Kulturschock, muss ich sagen, wenn man so was sieht.

Mitten auf dem Feld steht da eine 37 Meter hohe Christus-Statue mit ausgebreiteten, segnenden Armen. Und im Buch mache ich dann so einen kleinen Exkurs über die polnische Kirche, über den Katholizismus, über die wahnsinnigen Veränderungen der letzten zwei Jahre. Es gibt ja da im Parlament jetzt eine ganz antiklerikale Partei, die aus dem Stand zehn Prozent bekommen hat wie bei uns die Piraten.

Man denkt hier immer, ah, Polen, katholisch. In jedem Stadtparlament gibt es im Augenblick Kämpfe. Diese kleine neue Partei, die immer stärker wächst, geht mit Leitern an die Kreuze - in jedem Saal hängt in Polen ein Kreuz - und hängt daneben ein Atom und einen Halbmond. Halbmond für Muslim und Atom, das Symbol für Atheismus. Dann kommen die anderen, die Regierungsfraktion, gehen wieder auf die Leiter, nehmen den Halbmond ab und dann kämpfen die da an der Leiter. Polen ist ziemlich zerrissen im Moment.

Heise: Vielleicht wird es ja geeint durch die EM, oder was glauben Sie, wie die sich da auswirkt? Also weil, man sagt ja auch immer, es ändert sich ja eine ganze Stimmung in einem Land, zumindest für die Tage, die da gespielt wird, für die Wochen. Was sehen Sie da voraus?

Möller: Das ist in der Tat wirklich wie auch vom Himmel gesandt. Der Premierminister Donald Tusk, der stärkste Politiker im Land, ist ja mit seinem Oppositionsführer, also mit Jaroslaw Kaczynski, tief verfeindet. Die reden nicht mehr miteinander seit, glaube ich, über einem Jahr. Und ich bin neugierig, ob es jetzt dazu kommt. Man kann nur hoffen - es ist noch nicht so wie in der Ukraine, im Gefängnis sitzt da noch niemand. Aber es geht sehr hoch her, leider.

Heise: Sehr hoch her geht's zum Teil auch bei den Fans. Unter den polnischen Fußballfans gelten einige als gefährliche Hooligans. Es werden auch schwere Ausschreitungen zwischen Deutschen und Polen befürchtet. Kann das verhindert werden? Alkoholverbot? Oder was würden Sie vorschlagen?

Möller: Ich persönlich möchte diese Ausschreitungen erst mal erleben. Das Gleiche wurde auch schon 2006 gesagt bei der WM in Deutschland. Und es ist nichts passiert. Ich glaube, es ist so: Erst einmal gibt es so was wie Gastfreundschaft, und das hat auch ein 17-jähriger Hooligan in Polen verinnerlicht. Das sind heilige Dinge. Es gibt so ein Sprichwort Gosch dom Buck dom, also: Ein Gast im Haus, Gott im Haus. Gut, es kann natürlich Provokationen geben. Ich persönlich glaube es nicht, so. Sie können mich dann noch mal einladen, wenn es so weit ist.

Heise: Also hoffen wir einfach mal, dass es tatsächlich nicht so ist. Wem drücken Sie denn jetzt fußballerisch die Daumen?

Möller: Ja, das werde ich immer wieder gefragt. Also erste Halbzeit Polen, zweite Halbzeit Deutschland. Ich war ja 2006 beim Match Deutschland-Polen in Dortmund. Und ich stand in der polnischen Fankurve. Mit 35.000 Polen, die alle geweint haben, als das 1:0 fiel, von Oliver Neuville in der 91. Minute. Und ich muss Ihnen gestehen: Ich habe mich klammheimlich gefreut. Und seit diesem Moment weiß ich, ich bin nun mal hier sozialisiert worden, ich hab in Bettwäsche von Bayern München geschlafen.

Da kommt man nicht mehr raus. Aber trotzdem, rein vom Verstand her, würde ich es den Polen wirklich sehr wünschen. Die haben in 80 Jahren noch nie ein Match gewonnen gegen Deutschland. Und auch noch nie einen richtigen Titel geholt. Es ist jetzt mal an der Zeit.

Heise: Na, jetzt wünschen wir uns erst mal eine schöne EM für die nächsten Tage. Vielen Dank!

Möller: Vielen Dank!

Heise: Steffen Möller. Sein neues Buch "Expedition zu den Polen. Eine Reise mit dem Berlin-Warschau-Express" ist übrigens im Malik-Verlag erschienen. Herr Müller, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.

Möller: Danke, Tschüß. Dowiedzienia.


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