Ein fotogenes Land

04.10.2006
Bislang prägten Fotografien von atemberaubenden Landschaften, fantastischen Bauwerken oder großen sozialen Unterschieden unser Indien-Bild. Wie stark sich der Subkontinent in den vergangenen Jahren geändert hat und zugleich in Traditionen verankert bleibt, zeigt der Bildband "Indien Einst und Jetzt".
Indien ist so fotogen, dass wohl nichts in diesem Land unfotografiert geblieben ist, seit man im Westen Überraschungen sucht und Ausblicke ins Fremde, Exotische, seit Land und Leute, aber auch atemberaubende Landschaften, grandiose Architekturen und seltsame Tiere auf Interesse beim Publikum stießen. Ein Interesse, das so alt ist wie die Fotografie.

Und da Fotografen – nicht nur Vertreter der britischen Kolonialherren – dort seit dem 19. Jahrhundert unterwegs waren, gibt es eine Fülle von historischen Aufnahmen. Ihr entscheidender Unterschied zur jüngeren Ästhetik der Reportage- und Reisefotografie: Es sind Schwarz-Weiß-Aufnahmen, oft in jener Sepiafärbung, hinter der die Welt in eine ungefähre, umso nostalgischer aufgeladene Zeit zu entrücken scheint. Es sind lang belichtete und darum häufig menschenleere oder gestellte Ansichten.

Ganz anders hat sich Indien in das Bildgedächtnis unserer Zeit eingegraben, als "farbiges" Land, aus Buntheit und Fülle zusammengesetzt und im Vorübergehen gestreift. Als Fundgrube sich jederzeit bietender Gegensätze von arm und reich, exquisit und heruntergekommen, feudal und modern, tief gläubig und oberflächlich: Sadhus und Slums, Tajh Mahal und Mutter Theresa, Pilger und Militärparaden. Von dieser mit Faszination, Schauer und Mitleid einhergehenden Sicht auf die Verhältnisse in ihrem Land, wollen sich die Herausgeber befreien und gleichzeitig die Vergangenheit für sich reklamieren, unabhängig vom Blick des Eroberers: ein zweiteiliger, von vorne und hinten gleichermaßen auf zu blätternder Band ist das Ergebnis.

Der Publizist Vir Sanghvi, u.a. Herausgeber der Zeitung "Hindustan Times" unterstreicht in seinem Essay zum "Jetzt"-Teil des Buches, wie grundlegend die größte Demokratie der Welt sich in den vergangenen Jahren gewandelt hat: durch die Öffnung des Marktes, durch die intellektuelle Stärke seiner Mittelschicht, durch das weltweit erfolgreiche Kino. Vor allem aber, so schreibt er, sei die Selbstwahrnehmung als korruptes Dritte-Welt-Land verschwunden und das hysterische Schreckbild der Überbevölkerung habe sich aufgelöst in Stolz. Dieses Selbstbewusstsein spiegelt sich in der Bildauswahl. Bezeichnenderweise beginnt sie mit den landschaftlichen Schönheiten Kashmirs, einst Refugium vor Hitzewellen und heute eines der Gebiete, dessen Flüchtlinge überall in Indien verteilt sind. Das gänzlich Unverfängliche ist eben doch nicht so leicht zu haben. So wie auch Freizeit und Pausen eher auftauchen als Arbeitssituationen und dem städtischen Mittelstandsleben mehr Raum zusteht, als dem Leben auf dem Land, obwohl dort 70 Prozent aller Inder leben. Sorgfältig austariert erscheint dagegen die Präsenz der unterschiedlichen Religionen, ein Thema mit Sprengstoff im heutigen Indien. Immer wieder bestechen klug arrangierte Zusammenstellungen: links ein traditionelles Ochsenkarrenrennen, rechts eine Poloszene oder Blicke von oben auf die Straße, die einmal als Prozessionsort dient, ein anderes Mal als Schauplatz eines Ringkampfes. Luftaufnahmen der Ufer von Varanasi oder von archäologischen Stätten stellen Zusammenhänge her, die Reisenden mitten drin und am Boden verwehrt sind. Rajastans spektakuläre Baukunst wird einmal mehr ins rechte Licht gerückt, ebenso wie neue Malls und alte Kinos. Die Bildunterschriften sind so ausführlich und informativ gehalten, dass auch Indienfremde sich gut informiert zurechtfinden.

Öffnet man den Band auf der Seite, die dem "Einst" gewidmet ist, sorgt der Text des Historikers und Sachbuchautors Rudranshu Mukherjee für eine gründliche Orientierung in der langen und durchaus bewegten Geschichte des Subkontinents bis zur Unabhängigkeit 1947. Auch erinnert er daran, dass Mathematiker schon im 5. bis 6.Jahrhundert die Erde für rund hielten, erste (sehr exakte) Berechnungen der Erdumdrehung anstellten und uns durch die Vermittlung der Araber die Ziffer Null weitergaben.

Rezensiert von Barbara Wahlster

Vir Sanghvi, Rudranshu Mukherjee: Indien Einst und Jetzt
Aus dem Englischen von Christel Klink und Stefanie Scheffler
München 2006 Verlag Frederking und Thaler
Bildband, 274 Seiten, 7 Ausklapptafeln, 105 Farb- und 120 Scharz-Weiß-Fotos, 5 handcolorierte Bilder;
50,00 Euro