Ein Feuerchen, viele Süppchen

Von Mathias Greffrath · 10.09.2010
"Resonanz zu bekommen geht schnell, wenn man es intelligent anfängt. Die Medien lieben es, wenn Krach ist", sagte Thilo Sarrazin vor einem Jahr. Und nun hat er mit fetzigen Sätzen, biologischer Halbbildung und statistischen Halbwahrheiten ein Feuerchen entzündet, auf dem viele Süppchen köcheln:
Die jungen Rechten haben einen Helden, der Elite-Sozi von Dohnanyi macht das belastete Wort "Volksgruppe" wieder heimisch, in der "Welt" denkt Professor Heinsohn über eine Grundgesetzänderung zur Abschaffung des Sozialstaats nach, die "BILD"-Zeitung, die den ganzen Hype ausgelöst hat, fordert "Uns Deutsche" auf, dem Bundespräsidenten unsere Meinung zum Fall zu sagen – mit vorgedruckten Briefen. Im "Spiegel" jubelt Krawallfeuilletonist Matussek über die Entmachtung des Gutmenschen-Journalismus durch die Volkswut, und 200.000 intelligente Deutsche jubeln ihm im Internet zu. Es hat geklappt.

Die Tatsache, dass ein wirklichkeitsentrückter, berlingeschädigter Bildungsbürger und ein paar gierige Medien Menschen mit Abitur wie auf Knopfdruck in einen schwer einschätzbaren Erregungszustand versetzen können, ist gruselig. Mag sein, dass die Aufregung in acht Wochen vergessen ist. Aber das wirkliche Problem schwelt weiter, und das ist auch nicht, wie die meisten Sarrazin-Kritiker glauben, allein durch mehr Bildung zu beheben. Denn es geht um die Versäumnisse von 30 Jahren.

Anfang der 70er-Jahre war der Nachkriegsboom, in dem die deutsche Wirtschaft Millionen von Arbeitern aus Südeuropa für die Drecksarbeit angeworben hatte, zu Ende; Technik und Globalisierung trockneten die Nachfrage nach ungelernten Arbeitern immer weiter aus. Regierungen und Gewerkschaften versäumten, die Verfestigung der Arbeitslosigkeit zu verhindern, etwa durch radikale Arbeitszeitverkürzung. Stattdessen: Problemverschleppung durch Transferleistungen, getragen von der Illusion, das Wachstum werde schon wieder kommen. Die schwerstwiegende Unterlassung aber: Deutschland wurde nicht für eine Zukunft als Bildungsland gerüstet. Der Anteil der Einwohner mit Hochschulbildung stieg in 30 Jahren in Korea ums Fünffache, in Ländern mit vergleichbarer Migrantenquote wie Frankreich und Schweden um 150 beziehungsweise 60 Prozent – in Deutschland stagniert er seit 1980. Eine Intelligenzlücke, für die weder türkische Gene noch gebärunwillige deutsche Akademikerinnen verantwortlich sind.

Drei Jahrzehnte Realitätsverweigerung korrigieren, das wird teuer: Mehr Polizei, mehr Lehrer, mehr Kindergärten – alles dringend nötig, aber es reicht nicht. Ohne Beschäftigung nützen alle Schulen nichts. Stuttgart hat mehr Migranten als Berlin, aber Arbeit und deshalb kein "Integrationsproblem". Sarrazin weiß das und seine neoliberalnationale Diagnose heißt: In der globalisierten Wirtschaft werden zehn Prozent der Menschen nicht gebraucht, das muss sich "auswachsen" oder die muss man ausweisen, und bei den anderen müssen die Löhne sinken.

Die sarrazintrunkene Mittelschicht, die noch wählen geht, murrt zunehmend über den Wohlstandsverlust in der globalisierten und politikvergessenen Welt. Anschwellenden Unmut zu kanalisieren, indem man Sündenböcke, ethnische gar, aussondert – es ist ein übelbewährtes Mittel zynischer Elitenpolitik, und auch die Lohnforderungen der Unteren werden moderat bleiben, solange es Menschen gibt, die noch weiter unten sind.

Deutschland schafft sich ab? Unfug, in Deutschland wird alles so bleiben, wie es ist, wenn das Zusammenspiel von zynischen Medien, neoliberalen Eliten und opportunistischen Politikern Erfolg hat.

Rein rechnerisch gesehen könnten wir es aber auch mal mit 100.000 zusätzlichen Lehrern versuchen. Nur um die Größenordnung anzugeben. Mit einem Steuersatz von 0,13 Prozent auf die Vermögen wäre das leicht zu finanzieren.

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für "Die Zeit", die "ta2z und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen: "Montaigne – Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?". Mathias Greffrath lebt in Berlin.

Mehr zur Integrationsdebatte erfahren Sie auf unserem Themenportalauf dradio.de.
Mathias Greffrath
Mathias Greffrath© Klaus Kallabis
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