Ein erotischer Sommer

03.02.2012
Der Roman "Die schwangere Witwe" beschwört das Jahr 1970 herauf, in dem freie Liebe en vogue war. Aus dem Fokus eines alternden Mannes blickt der englische Schriftsteller Martin Amis selbstkritisch auf das "Goldene Zeitalter" zurück, in dem sich Sex vom Gefühl trennte.
Beleuchtete Ian McEwan in seinem Roman "Am Strand" 2007 die Zeit vor der sexuellen Revolution, so studiert sein Freund und Generationsgenosse Martin Amis nun die Zeit kurz danach. 1970, auf einem Schloss in Kampanien: Ein heißer, langer, "erotisch entscheidender" Sommer. Gerade für Keith Hearing, einen Londoner Anfang 20, der dort mit einer Schar von Freunden und Bekannten seine Ferien verbringt: "Der italienische Sommer - die einzige Episode in seinem gesamten Dasein, die sich wie ein Roman anfühlte."
Keith Hearing ist ein Dauer rauchender Büchernarr, der gerade eine erste Proberezension für das "Times Literary Supplement" schreibt und sich nicht vorzustellen vermag, irgendwann mal selbst Romane zu veröffentlichen (eine Amis durchaus nicht unähnliche Figur). Darüber hinaus verbringt er die Zeit damit, die Klassiker der englischen Literatur auf "Stellen" hin abzusuchen und zu ergründen, wie oder ob überhaupt bei Jane Austen, Charlotte Brontë oder Samuel Richardson "gevögelt" wird. Seine Fantasie wird durch die Vorstellung belebt, dass die angeblich stets willige Frieda von Richthofen auf eben jenem Schloss in Montale in den Zwanzigern wilde Tage mit D. H. Lawrence verbracht hat. Darüber diskutiert er mit seiner Freundin Lily, mit der "Shez" genannten Sheherazade, einem Oberweitenwunder wie aus Tausendundeinernacht, und mit der ebenfalls attraktiven Gloria Beautyman, mit der er schließlich auch im Bett landet. Ab und an ist es auch an der Zeit, "ein Kapitel angewandten Narzissmus einzuschieben", seine Umschreibung für "onanieren". Oder mit den begehrten Frauen übers Kinderkriegen zu diskutieren: "Das sind jetzt erst mal meine Fickjahre. Sobald ich mich ausgetobt habe, lege ich los", sagt da eine.

Amis zeichnet das Porträt einer Generation, die sich in Libertinage erst noch üben muss – und er entzaubert den Mythos der freien Liebe: auch "pilzbleiche Blumenmädchen" wollen sich manchmal aufsparen für die Ehe. Promiskuität wird heftig propagiert, aber nicht immer realisiert. Der "soziosexuelle Fortschritt", er kommt hier nicht prompt, vieles ist noch "wüste Pantomime". Immerhin, man kann den Anblick sich barbusig am Swimmingpool räkelnder Schönheiten genießen und versuchen, sie heimlich abzuschleppen. Doch auch das hat seine Tücken, merkt Keith bald, und es gehört zu den vielen komischen Momenten dieses Buches, wenn er sich fragt: "Literatur, warum hast du mir das nicht gesagt?"

Die wichtigsten Erfahrungen sammelt man eben nicht beim Lesen, sondern im Leben. Durchaus selbstkritisch und sehr ironisch erzählt er aus dem Blickwinkel eines alternden Mannes, der längst "im Hochgeschwindigkeitszug der Fünfziger" sitzt und nun zurückblickt auf jenes "Goldene Zeitalter", in dem sich "Sex vom Gefühl trennte". Mit Erstaunen sieht Keith Hearing 2003 eine seiner Töchter zur Tür hereinkommen mit einem schulterfreiem Top, auf dem der Aufdruck "Nutte" prangt. "Und weißt du, wie meine Sexualerziehung gelaufen ist?", fragt sie ihn und gibt gleich selbst die Antwort: "Wir sind durch und durch Porno."

Besprochen von Knut Cordsen

Martin Amis: "Die schwangere Witwe"
Roman.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Carl Hanser Verlag. München 2012.
414 Seiten. 24.90 Euro

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