Ein einziger dunkler Vorwurf

22.08.2008
Der jungen Frau, die in Unica Zürns Erzählung "Dunkler Frühling" die Hauptrolle spielt, wurde keine Zeit zum Erwachsenwerden gelassen. Ein Missbrauch nimmt ihrer Kindheit jeglichen Zauber, und die Welt erscheint dem Mädchen fortan feindlich. Es ist eine beklemmende Geschichte über die Schatten weiblicher Existenz.
"Ihr Vater ist der erste Mann, den sie kennenlernt: eine tiefe Stimme, buschige Augenbrauen, schön geschwungen über lächelnden schwarzen Augen."

Mit diesem Satz beginnt Unica Zürn ihre 1969 erschienene Erzählung "Dunkler Frühling", in deren Zentrum ein junges Mädchen steht, aus der man eine Frau macht, ohne ihr Zeit zum Werden zu lassen.

Die Zehnjährige vermisst den geliebten Vater, der als Soldat im Krieg dient. Doch auch nach seiner Rückkehr macht er sich rar in der Familie. "Wer sich rar macht, der wird vermisst", heißt es im Text. Der Abwesende bleibt ein Unbekannter, nach dem sich das Mädchen sehnt.

Sie ersetzt den fehlenden Vater, der ihr kein Schutzperson sein kann, durch starke Männerfiguren, die sie in Büchern findet. Helden wie Kapitän Nemo schützen das ängstliche Kind nachts gegen die Übergriffe von schrecklichen Phantasiegestalten. Aber diese stummen Helfer sind machtlos, als sie von ihrem Bruder missbraucht wird. Durch diese Vergewaltigung werden alle kindlichen Träume, die die Pubertierende auf das eigene und das fremde Geschlecht bezogen hat, entzaubert.

"Sie hat nicht die geringste Erfahrung und ist ohne Verteidigung."

Die Welt, die sie kennenlernt, ist feindlich, und das andere Geschlecht eine Bedrohung. Von diesen Empfindungen wird auch die erste Liebe überlagert, die unschuldig nicht mehr sein kann, weil ihr der Verlust der Unschuld vorausging.

Unbeschwerte Kindheit darf sie nicht erleben, Sehnsüchte haben keine Zeit zu reifen - die namenlos Bleibende ist der nackten Realität ausgesetzt. Allein Träume bleiben für sie ein gewaltfreies Refugium, während das Dasein vom männlichen Geschlecht dominiert wird, das die Männer wie eine Waffe gebrauchen.

Die Erzählung, die ursprünglich "Schwarzer Frühling" heißen sollte, handelt von den Schatten einer weiblichen Existenz. In dieser beklemmenden Geschichte wird das Dunkle, von dem das Geheimnisvolle umgeben ist, zu einer zentralen Metapher. Unica Zürn hat ein Buch über unerfüllte Sehnsüchte geschrieben, denn auch die Liebe der später Zwölfjährigen zu einem Ausländer hat keine Zukunft.

Zu ihm entwickelt das Mädchen Vertrauen, ihn, den Unbekannten, sucht sie in seiner Wohnung auf, als sie erfährt, dass er krank ist. In ihrer grenzenlosen Zuneigung überschreitet sie Schwellen des Erlaubten, aber sie ist ebenso ohne hintergründige Absichten wie der Mann, der ihr ein Foto von sich schenkt, das sie verschlingt.

Diese Einverleibung ist eine schmerzlose Vereinigung, die jenen beglückenden Zauber atmet, auf den sie trotz der erfahrenen Schändung nicht aufgehört hat zu hoffen. Zugleich ahnt sie, dass dieses Glücksgefühl keine Steigerungen erfahren wird, weshalb die Entscheidung, ihrem Leben durch einen Sprung aus dem Fenster ein Ende zu setzen, konsequent anmutet. Die sich darin ausdrückende Absage an die Welt ist ein einziger, dunkler Vorwurf von irritierender Hellsichtigkeit.

Die 1916 geborene Unica Zürn, die Max Ernst als die "größte lebende Dichterin" bezeichnete und deren Name Oskar Pastior sich in das Anagramm "azur in nuce" - Himmelsblau im Kern - verwandelte, nahm sich 1970 durch einen Sprung aus dem Fenster das Leben.

Rezensiert von Michael Opitz

Unica Zürn: Dunkler Frühling
Merlin Verlag, Gifkendorf 2008
60 Seiten, 12,90 Euro