Ein doppeltes Lenzlied

Die Sonate Nr. 1 G-Dur für Violine und Klavier op. 78

Eine Skulptur von Johannes Brahms von Maria Fellinger aus dem Jahr 1889
Eine Skulptur von Maria Fellinger aus dem Jahr 1889: Sie zeigt den Komponisten Johannes Brahms © picture alliance / dpa / Beate Schleep
12.04.2015
Kriterien für "gültige" Interpretationen zu finden, ist angesichts der eminent subjektiven Prägung von Brahms‘ G-Dur-Violinsonate besonders schwierig. Der Tod des Sohns seiner Freundin Claras Schumann schwingt mit. Doch Interpreten mögen Zurückhaltung üben. Hören Sie unsere Auswahl historischer und aktueller Aufnahmen!
"Über Regen musst du nicht klagen: Er lässt sich sehr gut in Musik setzen, was ich auch den Frühling in einer Violin-Sonate versucht habe."
Diese Zeilen an den befreundeten Dirigenten Otto Dessoff schrieb Brahms im September 1879 aus Pörtschach am Wörthersee, wo besagte Sonate als kammermusikalisches Gegenstück zum D-Dur-Violinkonzert entstand. Wenn er erklärte, er hätte in dem Werk den Regen in Musik gesetzt, so spielte er damit auf zwei Lieder an, die er schon im Frühjahr 1873 komponiert hatte und die nun – sechs Jahre später – in die G-Dur-Violinsonate eingeflossen sind. Es sind Vertonungen zweier Texte seines holsteinischen Freundes Klaus Groth, die beiden "Regenlieder" aus Opus 59. Motivisch durchziehen sie die ganze Sonate, klingen mal mehr, mal weniger deutlich an, was dem Werk den berühmten Beinamen "Regenlied-Sonate" einbrachte.
Die Anknüpfungen an die "Regenlieder" sind nicht nur musikalisch motiviert, sie haben auch einen biografisch-privaten Hintergrund. Die Jahre zwischen den Liedern und der Sonate waren erfüllt von Brahms‘ Anteilnahme an den familiären Sorgen seiner Freundin Clara Schumann. Sie hatten sich dramatisch zugespitzt, als Claras Sohn Felix, Brahms‘ Patenkind, an Tuberkulose erkrankte und im Februar 1879 vierundzwanzigjährig starb. Schmerz und Trauer darüber findet im zweiten Satz der Sonate direkten Ausdruck: dort, wo das liedhafte Adagio in eine koduktartige Marschbewegung umschlägt, sich vom sanglichen Es-Dur in ein düster pochenden es-Moll wendet. Unüberhörbar, dass dieses Pochen in punktiertem Rhythmus von Motiven der "Regenlieder" her stammt. Mithin ist davon auszugehen, dass der langsame Satz Ausgangspunkt für die Komposition der Sonate war. Erst im Gefolge der Trauermarsch-Sequenz, in der sich die Erschütterung über den Tod des jungen Felix ausdrückt, besann Brahms sich der vor Jahren komponierten Lieder.
Doch nicht nur musikalisch, in der offenkundigen rhythmischen Ähnlichkeit von Trauermarsch und "Regenliedern", auch von der textlichen Seite her findet man bestätigt, dass der Bezug zu Felix‘ Schicksal das ideelle Zentrum der Sonate bildet: "Wecke mir die Träume wieder, die ich in der Kindheit träumte", heißt es in dem einen Lied, "Wenn die Sonne wieder scheint, wird der Rasen doppelt grün", im anderen. Wehmütiges Erinnern, aber auch Hoffnung klingen in den Texten an. In der Sonate verbindet sich das eine mit dem anderen - namentlich im Finale, wo alle thematischen Fäden zusammenlaufen.
Kriterien für "gültige" Interpretationen zu finden, ist angesichts dieser eminent subjektiven Prägung von Brahms‘ G-Dur-Violinsonate besonders schwierig. Sie lassen sich allenfalls in einer allgemeinen Forderung bündeln: Interpreten mögen Zurückhaltung üben, was den eigenen Ausdrucksdrang betrifft, und sie mögen sich ganz dem seltsamen Schwebezustand überlassen, in dem sich das Werk von Anfang bis Ende bewegt: dem Schwanken zwischen blühender Innigkeit und verhaltener Melancholie. Einige schöne Beispiele für diese Haltung bietet unsere Auswahl historischer und aktueller Aufnahmen.