"Ein doppelt kritischer Blick"

Thomas Lehr im Gespräch mit Jürgen König · 18.08.2010
Als eine künstlerische Meditation beschreibt der Schriftsteller Thomas Lehr seinen neuen Roman. Mit "September. Fata Morgana" versucht er, die unfassbaren Terroranschläge von 2001 zu verstehen und zu verarbeiten.
Jürgen König: Bei seinen Romanen "Nabokovs Katze" und "42", da fingen die Kritiker vollends an zu schwärmen. Jetzt legt er einen neuen Roman vor, Thomas Lehr, 1957 in Speyer geboren, in Berlin lebend. Dieses neue Buch heißt "September. Fata Morgana", Herr Lehr, schön, dass Sie gekommen sind!

Thomas Lehr Ja, guten Tag!

König: "September. Fata Morgana" – in Ihrem Buch erzählen Sie, aber erzählen ist schon das falsche Wort, denn Sie erzählen ja nicht nur. Also noch mal: Ihr Roman erzählt, berichtet, handelt, fantasiert von – im Mittelpunkt – vier Menschen: von einem deutsch-amerikanischen Germanisten, Martin heißt er, der in den USA lebt und seine Tochter Sabrina am 11. September 2001 bei den Terroranschlägen auf das World Trade Center verliert, und von einem irakischen Arzt, Tarik, dessen Tochter Muna 2004 bei einem Bombenattentat in Bagdad ums Leben kommt.

Damit ist der Rahmen gespannt für ein, wie soll man das nennen, raumgreifendes, assoziierendes Nachdenken über diese Terroranschläge, über den nachfolgenden Irakkrieg, über den Hass, über die Liebe, über eine Welt, die sich über ihre Grundlagen, sage ich mal, schon lange nicht mehr verständigen kann oder das nicht mehr will. Finden Sie mit diesen Worten Ihren Roman irgendwie ganz griffig charakterisiert?

Lehr: Ja, also was den politischen Rahmen angeht, auf jeden Fall, und auch inhaltlich würde ich Ihnen da voll und ganz zustimmen. Was mir jetzt fehlte, das war aber höchstwahrscheinlich Ihre nächste Intention, …

König: Es ist sehr schwer, dieses Buch zusammenzufassen, deswegen …

Lehr: … ist die formale Art, wie ich das gemacht habe, …

König: Darauf kommen wir noch.

Lehr: … dass das Buch eben … Es ist im Wesentlichen eine künstlerische Meditation – ich habe diesen Begriff eigentlich während der Arbeit mehr benutzt als den Begriff Roman – über einen politisch drastischen Konflikt, die sich wieder verortet auch mit Bezügen auf die geschichtliche Dimension dieses aktuellen politischen Ereignisses. Ich habe es eigentlich als Prosa-Meditation von Anfang an gesehen eines Künstlers, der sich in einen fast nicht zu fassenden Konflikt hineinbegibt und versucht, in Anbindung an die literarische Tradition, darauf zu reagieren, ganz lebendig und gleichzeitig auch traditionell.

König: Ja, nicht zu fassen, sagen Sie, ich dachte nämlich gerade: In Zusammenhang mit diesen Anschlägen vom 11. September 2001 hat man immer diesen Begriff unbeschreiblich, unfassbar benutzt. Gab es auch diesen Wunsch, das Unfassbare eben doch irgendwie zu beschreiben oder zu umreißen? Was gab den Ausschlag, zu sagen: Mein nächster Roman handelt vom 11. September 2001 und den Folgen?

Lehr: Ja, genau das, was Sie eben geschildert haben: Ich denke, dass ich da überhaupt nicht alleine war, sondern dass die meisten Zeitgenossen das eigentlich als … das Attentat auf das World Trade Center als Schock empfunden haben, und, wie ich auch, zeitgenössisch mit großem Unverständnis erst mal reagiert haben. Und mein Bedürfnis war, zu verstehen, was da eigentlich geschehen ist, der größte Terroranschlag in der Geschichte der Menschheit passierte vor meinen Augen. Ich war erst gestört, ich schrieb eigentlich den Roman "42", der sich mit Philosophie und Quantenphysik beschäftigte und nun ganz und ganz nicht geschichtlich war, wenn er sich auch mit Strukturen der Menschheitsproblematik und Gesellschaftsproblematik auseinandersetze.

Und ich begann dann ganz intuitiv, auf einer Parallelspur alles Material zu sammeln, was mit 9/11 zusammenhing, und als sich der Irakkrieg abzeichnete – und das hing ja sehr wohl damit zusammen –, merkte ich, was es für ein großes Thema wird und sammelte zunächst mal, und war aber … Seit diesem Crash in den Twin Towers war ich getroffen von diesem Thema, und ich hatte mir vorgenommen: Ich suche eine Möglichkeit, das zu bearbeiten. Aber es hat eigentlich drei Jahre lang gedauert. Ich hatte 2004 im Sommer den Roman "42" fertig gestellt in der Rohform oder in der Urform, und dann hatte ich drei Jahre Material gesammelt. Und so lange habe ich im Grunde nachgedacht über die Struktur dieses Buchs oder über mögliche Strukturen, und dann begann ich erst, zu schreiben.

König: Sie ergreifen nicht Partei, es gibt nicht die Guten und die Bösen, sondern nur, fand ich, die Dilemmata. Ein Beispiel dafür: Es ist Martin, der da spricht: "Mache eine Milliarde Muslime für einige hundert Wahnsinnige verantwortlich, ich habe es nicht vor und ich kann doch nicht verhindern, ganze Länder zu verachten wegen ihrer Rückständigkeit, ihrer Aggressivität, ihrer wirtschaftlichen Erbärmlichkeit, ihrer Unfähigkeit, für die Gesundheit, die Bildung und den Wohlstand ihrer Bewohner ausreichend zu sorgen".

Damit ist, sagen wir mal, ein doppelt kritischer Blick geworfen auf die Vorurteile der einen wie auf die Rückständigkeit der anderen. Weiter: "Aber man hat kein Recht auf Hass", heißt es. "Es gibt kein Recht, es ist nur so leicht, so natürlich, so widerlich menschlich." Ich fand das eine grandiose Beschreibung dieser Hilflosigkeit, in der man steckt mit seinen Gedanken und Empfindungen zu diesem Thema. Haben Sie beim Schreiben irgendwann mal an Wege gedacht, wie man dieser Hilflosigkeit, die man selber empfindet, entkommen könnte?

Lehr: Ich habe mich dieser Hilflosigkeit eigentlich ausgesetzt, und zwar auf zwei Seiten: Also sowohl der Germanistikprofessor Martin, der im World Trade Center seine Tochter verliert, die gerade 19 Jahre alt ist, als auch der irakische Arzt Tarik, der zusieht, wie seine ältere Tochter beim Attentat dann ums Leben kommt, die stecken in der Geschichte drin, und was auch immer sie denken: Sie können ihr nicht entrinnen.

Es gibt ein Entrinnen, das kein effektives Entrinnen ist, aber doch die Dinge erleichtert, das ist für mich das Verstehen der Dinge und das Gespräch, das man über diese Dinge dann führt, also die dialogische Struktur, einen Dialog zu führen mit der anderen Kultur, mit sich selbst, die Dinge aufzuklären, scheint immer die Voraussetzung für irgendeine Art von besserem Befinden angesichts dieser Dilemmata zu sein. Aber es ist bewusst in dem Roman nicht angelegt, also dieses Durchdringen der Dinge ist meine größte ethische und ästhetische Absicht, nicht das Formulieren einer eindeutigen Position, die ich im Übrigen auch gar nicht möglich finde.

König: Ich wollte gerade sagen, die gibt es auch nicht. Sie schreiben im wahrsten Sinne des Wortes ohne Punkt und Komma, Sie verzichten auf jedes Satzzeichen, woran man sich beim Lesen, finde ich, überraschend schnell gewöhnt. Erst habe ich gedacht, das muss doch ein anstrengendes Schreiben sein, so ohne dieses beruhigende Pausieren, das Innehalten, auch das Ordnungschaffen, das ja ein Punkt zum Beispiel auch so mit sich bringt. Dann wieder dachte ich, nein, das muss eine Befreiung sein, ein freieres Schreiben mit viel größeren Möglichkeiten. Was stimmt?

Lehr: Ja genau, das Zweite, was Sie sagten, das habe ich recht schnell entdeckt bei diesem Text, durch diese flüssige Art ist ja, durch den Untertitel "Fata Morgana" schon das Flirren in der Luft angelegt. Ich wollte diesen Konflikt nicht mit einem klassischen, realistischen Roman, der im Übrigen fast doppelt so lang gewesen wäre, beschreiben, sondern ich wollte ihn fast halluzinogen, meditativ, im Bewusstsein von Individuen schildern, und da schien mir diese fließende, flirrende Sprache angebracht.

Und ich begann schnell, die Vorteile zu entdecken, nämlich die Möglichkeit, schnell umzuschalten von Gedanken zu Räumen, von Szenen zu Überlegungen, von Prosa auch zur Lyrik oder in essayistische Teilpassagen hinein, also man kann diese Sprache … Sprachform ist einfach sehr ökonomisch im Grunde, und sie hat aber auch diesen lyrischen Grundton, mit dem ich das Ganze erzählen wollte, also diese Schönheit der Sprache, die ich da angestrebt habe, vielleicht auch eine neuartige Schönheit, …

König: Es ist Ihnen auch gelungen, wenn ich das sagen darf.

Lehr: … danke schön, die sollte es einem auch ermöglichen, diesen Konflikt als Leser zu überleben, weil das Thema ist ja äußerst szenisch, das ist ja eine Tragödie, die ich erzähle. Aber ähnlich wie bei Shakespeare, wie kann man eine Tragödie genießen, das ist eigentlich paradox, und da würde ich sagen, da kann einem nur die Sprache helfen.

König: Auch dafür ein Beispiel, diesmal ist es der irakische Arzt Tarik, der da nachdenkt, erzählt, träumt, davon nämlich, wie er seine Frau Farida kennenlernte. "Farida hebt das Gesicht im heißen staubigen Frühling in Bagdad, unverschleiert, 20-jährig. Die Braue sticht ins Herz. Jahre in der Morgenröte, heftige Stille, sich in den Unterarm beißende Paradiese, die nach Moschus und Orangen duften. Wie soll ich es sagen, mein Bruder, ich zerschnitt meine erste Leiche im Anatomiesaal und wurde zur Hälfte religiös, denn die Ehe, sagt der Prophet, ist die halbe Religion. Er selbst war also mindestens sechsfach gläubig. Ich geriet in jene bedingungslose Haft, die meine einzige und größte Befreiung war."

Sie changieren da im Tonfall mühelos zwischen sehr Poetischem und dann wieder wunderbar und sehr handfest Ironischem, also wenn da dezent auf die drei Ehen des Propheten Mohammad angespielt wird, die Ehe ist die halbe Religion, also war er sechsfach gläubig. Wie entsteht so was, fließt das aus Ihrem Kopf in den Computer, oder sitzen Sie und schreiben und entwerfen und verwerfen und jedes Wort wird neu bedacht?

Lehr: Der Hintergrund hinter diesen so leicht ineinander verschraubt wirkenden Gedanken ist zum Teil sehr komplex. Also manchmal brauche ich zwei, drei Wochen, um zwei Seiten zu schreiben in dem Buch, manchmal hatte ich Gott sei Dank auch so, als ich sehr tief in dem Material war, etwa nach zweieinhalb Jahren Arbeit, dann floss es manchmal auch so einfach heraus, dann konnte ich mit dem Material spielen. Zu Anfang war es sehr schwer, und dann musste ich diese Dinge, die jetzt hier so fluide wirken, mühsam konstruieren. Ich habe immer das Ziel vor Augen gehabt, dass es leicht fließen soll und scheinbar leicht aussehen soll, aber die Übung war mitunter schwer. Doch Gott sei Dank, zum Schluss war ich dann so vertraut mit der großen Materialmasse auch, dass ich dann auch leichter schreiben konnte.

König: Es gibt ja von Kafka diesen schönen Satz: "Ehe sich ein Wort von mir aufschreiben lässt, schaut es sich zuerst nach allen Seiten hin um." Das trifft auf Sie auch zu?

Lehr: Ja, also ich lasse mich auch finden vom mot juste und ich warte auch, bis ich genau das gefunden habe, was es mir auszudrücken scheint.

König: Und heraus kommt dabei keine zeitgeschichtliche Analyse allein, sondern Literatur, und darum geht es.

Lehr: Ja, also mir hauptsächlich, ja.

König: Vielen Dank, der Schriftsteller Thomas Lehr zu Gast bei Deutschlandradio Kultur, sein neuer Roman, sein neuer großer Roman "September. Fata Morgana" ist im Carl Hanser Verlag erschienen. Ich danke Ihnen, dass Sie da waren, Herr Lehr. Alles Gute für das neue Buch, und damit für Sie natürlich auch!

Lehr: Vielen Dank!
Mehr zum Thema