Ein Buch zum Irrewerden

30.10.2012
Arthur Singram hat sich in ein Schweizer Sanatorium zurückgezogen. Er leidet an "zivilisatorisch induzierter Hypersensibilität" und an ganz gewöhnlichem Wahnsinn. Unter diesen Voraussetzungen darf der Leser keinen strukturierten Roman mit fortschreitender Handlung erwarten.
Schon der Titel dieses neuen Romans von Ingomar Kieseritzky spricht Bände: Traurige Therapeuten sind eigentlich nicht vorgesehen. Arthur Singram, Kieseritzkys Ich-Erzähler, hat daher Konsequenzen gezogen: Zwei Jahre zuvor hatte der erfolglose Schriftsteller eine Praxis für verhaltensgestörte Kleintiere von einem Freund übernommen.

Nun hat er sich in ein Schweizer Sanatorium verkrochen, denn Singram leidet nicht nur an diversen körperlichen Gebrechen. Singram hat eine zivilisatorisch induzierte Hypersensibilität und leidet ergo an der Welt schlechthin. Kontakte mit der Außenwelt hat er schon lange gemieden.

Zuletzt hauste er samt dickköpfigem Kater, einem philosophisch veranlagten Papagei und zwei gefräßigen Schildkröten in seiner privaten Arche Noah. Nun blickt er auf die Berge und lässt sein Leben und das seiner männlichen Vorfahren Revue passieren – der Ururgroßvater ein Zobeljäger, der Großvater Besitzer eines Privatzoos, der Vater ein Maler und berühmt für sein Gemälde "Die Arche Noah sticht in See".

Spätestens an dieser Stelle muss vor den möglichen Nebenwirkungen dieser Romanlektüre gewarnt werden: Wer einen Roman mit klar strukturierter und brav von A nach Z voranschreitender Handlung erwartet, sollte die Finger lassen von dieser so maliziös heiteren wie untergründig verzweifelten comédie humaine.

Denn Kieseritzky – der englischste unter den deutschsprachigen, da an Sterne und Nestroy geschulte Schriftsteller – liefert einen Anti-Roman: Die Erzählung mäandert in Rückblenden und Exkursen, Anekdoten und Abschweifungen. Das Figurenpersonal ist ein liebenswürdig monströses Kabinett von Mensch und Tier: traumatisierte Doggen; liebestolle Anakondas; unerreichbare Frauen; vor allem aber männliche Neurosenliebhaber: der eine beispielsweise an Brechreiz leidend wegen allem und nichts; ein anderer von Kopf bis Fuß in Aluminium verpackt, um gegen die mögliche Ansteckung mit Bakterien – 'wusstest du, dass in Mitteleuropa über 30.000 Mikrosporen pro Quadratmeter niedergehen?’ – gefeit zu sein.

Überhaupt das Zuviel als Signum der modernen Zeit! Denn Kieseritzky geht es weniger um das Tier – Tiere erscheinen hier als die eigentlich Gesunden – sondern um einen philosophischen Blick auf die Fragwürdigkeit unserer Welt: Wer heute gesund bleibt, muss krank sein! Wer krank ist, zeigt dagegen eine gesunde Abwehr gegen das gestörte Getriebe der Gegenwart. Das ist die fröhliche Wissenschaft, die Kieseritzky hier in Form eines a-logischen, sprich: die Dinge von den Füßen auf den Kopf stellenden Denkens postuliert.

Daher geistert Nietzsche ebenso durch den anspielungsreichen Roman wie etwa ein Hinweis auf das wilde Denken der so genannten Strukturalisten – deren Standardwerk, nur zur Erinnerung, "Traurige Tropen" heißt. Das ist denn wohl auch die größte Hürde für eine genussvolle Lektüre des an Situationskomik reichhaltigen Romans: Dass er die Gelehrten- und Fachsprache, die für seinen traurigen Therapeuten Wahn und Wollust zugleich ist, so getreu imitiert, dass der gewöhnliche Leser daran auch irre werden kann.

Besprochen von Claudia Kramatschek

Ingomar von Kieseritzky: Traurige Therapeuten
C. H. Beck Verlag, München 2012
347 Seiten, 19,95 Euro