Ein Bild von der Roten Armee

Rezensiert von Jörg Friedrich · 06.04.2008
Bogdan Musials "Kampfplatz Deutschland" füllt eine Lücke: Während es viel an Literatur und Film über die deutsche Wehrmacht gibt, ist das Bild über den Kriegsgegner, die Rote Armee, eher blass geblieben. Musials Buch gehöre auf jeden sozialdemokratischen Nachttisch, meint der Rezensent.
Bogdan Musials "Kampfplatz Deutschland" füllt eine Lücke: Während es viel an Literatur und Film über die deutsche Wehrmacht gibt, ist das Bild über den Kriegsgegner, die Rote Armee, eher blass geblieben. Musials Buch gehöre auf jeden sozialdemokratischen Nachttisch, meint der Rezensent.

Bogdan Musial musste der amtlichen deutschen Geschichtswissenschaft schon einmal nachhelfen. Ein gutes Dutzend Jahre sind verstrichen, seit die Wehrmachtsfotoausstellung unsere Schulkinder, das Lehrpersonal und die politische Klasse durcheinanderbrachte. Unter den ausgestellten Gräueln der Hitlertruppen waren einige falsch beschriftet, denn es handelte sich um Bluttaten der Stalinsoldateska. Sie sind tatsächlich leicht zu verwechseln und Musial, er ist Pole, half den verwirrten Kollegen mit der Zuordnung.

Wie hierzulande üblich, wurde er wegen abweichender Meinung zunächst einmal mit dem Kadi bedroht. Eine saftige Strafgeldzahlung brächte einen mittellosen Quertreiber vielleicht auf andere Gedanken. Inzwischen ist er als Dissident in Deutschland zugelassen; er geht als Historiker immer dicht an der Wand der Aktenbeweisstücke entlang. Dagegen kann man schwer anrennen, doch leichter sie ignorieren.

Die allgemeine geschichtliche lgnoranz in Deutschland strahlte unlängst das ZDF in seiner opulenten Wehrmachtsserie aus. Es störte kaum einen, dass in diesem Kriegsfilm gar kein Kriegsgegner vorkam. Von der Roten Armee, dem Stalinismus, seinen Kampfmethoden und Kriegszielen fehlte jegliches Bild.

Und solange eben keiner im Bilde ist, kann die linksradikale Partei, die in der bolschewistischen Tradition wurzelt, die Innenpolitik heute bequem an der Nase herumführen und ihr rechtsradikales Pendant nicht. Musial, der rechtzeitig das Buch zum bundesdeutschen Filmriss vorlegt, darf darum auf keinem sozialdemokratischen Nachttisch fehlen.

Wir alle, der Rezensent eingeschlossen, erfahren unglaubliche Dinge, teils neu, teils uns neu, teils endlich in schlüssigem Zusammenhang. Mir fehlte in der klassischen wie in der neuen Literatur über den sowjetischen Terror immer ein nachvollziehbarer Grund: Die Ratio im Massenmord, die Stalin gemeinhin eignete. Wo Hitler sprunghaft Impulsen folgte, blieb sein Gegenüber ein Schachspieler; selbst seine falschen Züge sind kalt berechnete. Dies bewunderten seine demokratischen Kriegsverbündeten Churchill und Roosevelt: so innig, während er ihnen das Fell über die Ohren zog. Wozu aber die beispielslosen Massenvernichtungswellen der Vorkriegszeit: die Ausrottung der Klein- und Mittelbauern durch Aushungern, die Liquidierung wissenschaftlicher und technischer Eliten, die Enthauptung schließlich des Offizierskorps und des leninschen Funktionärskorps?

"Stalin ist unbestreitbar eine der einflussreichsten Gestalten der Weltgeschichte Im 2o.Jahrhundert. Er hat die Sowjetunion zur Weltmacht hochgerüstet, große Teile Europas erobert, sowjetisiert, unterworfen. Dafür bezahlten die Völker der Sowjetunion einen furchtbaren Preis. Stalin mit seinen kommunistischen Gefolgsleuten war auch derjenige, der in Europa die größten Massenverbrechen beging. Die Zahlen der Opfer, die der kommunistische Massenterror in den 1930er Jahren in der Sowjetunion und ab 1939 auch in den besetzten Gebieten forderte, überstiegen die des nationalsozialistischen Terrors in Europa."

Die Opferzahlen übertreffen nicht nur die nationalsozialistischen, sie betragen das Dreifache. Auch wenn die Säuberungen den US-Botschafter Davies in Enthusiasmus versetzten, nachzulesen in seinem Bestseller "Mission to Moscow", fand die spätere Historiografie keinerlei Sinn in den Blutorgien. Ein machttrunkener Khan zerhackt die Füße seines Throns.

Musial entwickelt die Vernichtungswut überraschend, aber plausibel, aus dem kolossalsten Kriegsrüstungsprogramm der damaligen Zeit. Wie bitte?

Die einschlägigen Mühen Hitlers erscheinen nahezu popelig, verglichen mit den 60.000 Flugzeugen und 62.000 Panzern, deren Bau der im März 1932 beschlossene Fünfjahrplan vorsah. Der Militärstrategie nach sollte diese stärkste Armee der Welt die Weltrevolution begleiten, deren Ausbruch die große Weltwirtschaftskrise erhoffen ließ. Der Kommunist spekuliert immer auf Baisse und Krieg. Etwas Besseres kann ihm nicht passieren, denn auf d e r Leiter erklimmt er die Macht. Im Unterschied zum alten Marx verstanden Lenin und Stalin den nationalen Aufruhr der westlichen Arbeiter und den sowjetischen Interventionskrieg als die zwei Komponenten der Revolution. Angriff ist nur Verteidigung der gerechten Sache.

Bekanntlich kam kein proletarischer Aufstand und die gigantische Armee brachte es nur zu einem Riesenhaufen dysfunktionaler schadhafter Waffen und ungeübter Mannschaften. Gleichwohl verschlangen Herstellung und Importe Unsummen. Die Sowjetunion, ein unterentwickeltes Land, konnte den maßlosen Aufwand nur durch utopische Getreideausfuhren finanzieren. Die Partei, besessen von ihrer welthistorischen Mission, entzog den Bauern der Ukraine und Südrusslands die Nahrungs- und Saatmittel, die folgende Hungerepidemie tilgte eine zweistellige Millionenzahl "unnützer Esser" aus.

Die so vollbrachte Industrialisierung, kriegswirtschaftlich getrieben, wusste natürlich nicht auf Anhieb die Qualitätsgüter auszuspucken, die eine Kampagne gegen die Westmächte erforderte. Die überstürzte Zwangsaufrüstung bestand in einem unverbesserlichen Ausstoß von Murks. Was funktionierte, das konnten die unausgebildeten Rekruten nicht bedienen.

Die Irrealität des überspannten Unternehmens, erlebt als Permanenz der Pannen, schob die allwissende Partei Saboteuren, Bummelanten und Agenten in die Schuhe. Ihre Ausrottung nach exakten Planziffern verlangte wenig Know-how und disziplinierte, wie aller Terror, ungemein die Bewohner.

Der Lauf der Geschichte widersprach alsbald der kommunistischen Prognose. Nachdem Stalin, als Partner Hitlers, Polen, das Baltikum, Finnland und Rumänien attackiert hatte, - gar nicht um den dortigen Arbeitern beizustehen, sondern um sich Güter, Land und Leute einzuverleiben - wurde er von diesem aus dem nämlichen Grunde überfallen.

Die Sowjetunion führte einen beispiellosen, so brillanten wie mörderischen Verteidigungskrieg, den sie krachend verloren hätte, wäre ihr nicht jener Gönner beigesprungen, der Flugzeuge und Panzerplatten, Werkzeuge und Stiefel, Nahrung, Transporter und Sprit aus dem unerschöpflichen Füllhorn des US-Kapitalismus über sie ausschüttete.

Stalin hingegen opferte, was ihm am leichtesten fiel, das Blut seiner Landsleute, über 20 Millionen, doch immerhin weniger als die von ihm auf eigene Rechnung Beseitigten. Ohne den russischen Blutzoll hätten die spendierten US-Jeeps und Bomber die Wehrmacht um keinen Zentimeter zurück nach Berlin gebracht.

Die westalliierte Bodeninvasion an der französischen Küste wäre zudem kläglich gescheitert oder eher unterblieben. Auf den Schultern der Demokraten und auf Bergen von Gefallenen zum Siege getragen, nahm Stalin verdient Beute und gliederte Europa bis zur Elbe und zur Adria dem Totalitarismus an. Keiner besaß den Mumm, ihm zu wehren.

Es ist schon erklärlich, warum die Atem verschlagenden Torheiten des Westens in seinem Geschichtsepos retuschiert sind. Die bittere Prosa der Polen, Esten und Letten raut seine eitlen Verse beträchtlich auf. Mehr davon! Denn wie unser blinder Sänger des Kommunismuswahns in anderem Zusammenhang raunte: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."

Bogdan Musial: Kampfplatz Deutschland
- Stalins Kriegspläne gegen den Westen

Propylän Verlag, Berlin 2008
Bogdan Musial: Kampfplatz Deutschland
Bogdan Musial: Kampfplatz Deutschland© Propyläen-Verlag