Ein begnadeter Denker als beleidigte Leberwurst

08.04.2010
Wer Weisheit, Sprachkraft und Pessimismus (plus schlechte Laune) liebt, kennt wahrscheinlich einige Schriften Arthur Schopenhauers. Und das ist eine gute Voraussetzung zur Lektüre der "Senilia".
Anders als der C. H. Beck Verlag werbewirksam tönt, handelt es sich bei der Notizen-Sammlung aus den letzten Lebensjahren Schopenhauers nicht um eine "Kunst des Alters", sondern um Vermischtes aus drei Kategorien: Philosophische Gedanken(-brocken) aller Art, die Schopenhauer zumeist in andere Bücher eingearbeitet hat; Entwürfe zu Vorreden neuer Auflagen seiner Werke; außerdem Materialien zu "Über die Verhunzung der deutschen Sprache", eine Polemik, die posthum unter diversen Titeln veröffentlicht wurde ("Wäre es Wahnsinn; so wäre Hoffnung dabei: aber Dummheit ist unheilbar", schimpft Schopenhauer auf das "Federvieh" namentlich in der "Journalistik").

So zugänglich wie die berühmten "Aphorismen zur Lebensweisheit" sind die "Senilia", die auf ein 150-seitiges Notizbuch aus dem Nachlass zurückgehen, nur selten. Echter Schopenhauer-Stoff wird in der vorzüglichen Edition, die im Apparat auch Übersetzungen der zahllosen fremdsprachlichen Zitate des polyglotten Philosophen anbietet, dennoch geboten, nur eben in kleinsten Partikeln.

Sie machen Schopenhauers geistige Größe und riesenhafte Bildung, seinen Hochmut gegenüber den meisten Mitmenschen (bei tiefer Liebe zu allen Tieren) und seine bis ans Peinliche reichende Überempfindlichkeit sichtbar. Eingestreute Alters- und Todesreflexionen – "Der Tod sagt: du bist das Produkt eines Aktes, der nicht hätte seyn sollen: darum musst du, ihn auszulöschen, sterben" – verleihen den Notizen gelegentlich eine dunkle Intensität.

Immer wieder, oft bis zur Litanei, reflektiert Schopenhauer auf die Hauptzüge seiner wissenschaftlichen und privaten Existenz: Dass die "Profeßoren" ihn verkennen; dass man den großen Kant nicht mehr (richtig) kennt; dass sich die verhasste "Hegelei" weit verbreitet hat; dass seine Farbenlehre (und vielleicht noch diejenige Goethes) stimmiger ist als alle sonstigen Konzepte; dass die "Schmieraxe" einfach nicht schreiben können; dass die Verblödung überhand nimmt; dass der Wille, der alles regiert, ein "blinder Trieb" ist; dass ein glückliches Leben unmöglich ist ("das höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf").

Man tut Schopenhauer, der mit Humor sparsam umgeht, nicht unrecht, wenn man in den "Senilia" auch das Komische mitliest. Hier gebärdet sich ein begnadeter Denker oft als beleidigte Leberwurst und beweist die eigene These von der Unveränderlichkeit des Charakters (zu dem anti-jüdische Affekte zählen).

Angerührt zeigt sich Schopenhauer vor allem von Tieren: "Die größte Wohltat der Eisenbahnen ist, dass sie Millionen von Zug-Pferden ihr jammervolles Daseyn ersparen." Unter den Menschen lässt er neben sich vor allem Giganten gelten: "Buddha, [Meister] Eckhard und ich lehren im Wesentlichen das Selbe."

Große "geriatrische Traktatistik" (F. Vulpi) sind die disparaten "Senilia" nicht. Ihre Lektüre setzt beim Leser, der keine wissenschaftlichen Ambitionen hat, eine gewisse Sympathie für den Autor voraus. Bringt man sie mit, macht das Blättern und Stöbern in dem prämortalen Vademekum des großen Knurrenden durchaus Spaß. Außerdem lernt man etwas über den Wutausbruch als Schreibstil. Und über Beharrung. Schopenhauer blieb bis ans Ende ungebeugt: "Ich habe die Wahrheit gesucht und nicht eine Profeßur."

Über Autor und Herausgeber: Der oft mürrische Philosoph, Polemiker und Pudelhalter A. Schopenhauer (1788 bis 1860; Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung") sah sich als Kant-Nachfolger, litt unter Hegels Erfolg, verachtete "Philosophie-Profeßoren", sich selbst zumeist ausgenommen, sah in der Abendröte seines Lebens noch die Morgenröte seines Ruhms und fand die Einrichtung der Welt insgesamt unvernünftig; für Leo Tolstoi war er "der genialste aller Menschen". Der italienische Philosoph F. Volpi (1951 bis 2009) hat diverse Schopenhauer-Schriften herausgegeben. E. Ziegler, vormals Stadtarchivar, doziert als Historiker und Paläograph an der Universität St. Gallen.

Besprochen von Arno Orzessek

Arthur Schopenhauer: Senilia. Gedanken im Alter
Hrsg. von Franco Volpi und Ernst Ziegler
C. H. Beck, München 2010
Leinen-Einband, 9 Abbild., 374 Seiten, 29,95 Euro