"Ein autoritäres Siechtum"

Olga Ametistova mit Katrin Heise · 16.04.2010
Wo liegen die Ursachen für den aktuellen Konflikt in Kirgistan? Olga Ametistova, die bis vor zehn Tagen als GTZ-Expertin zur Justizreform in Kirgistan war, macht dafür die Vollmachten des Präsidenten mitverantwortlich.
Katrin Heise: Wo liegen die Ursachen für den aktuellen Konflikt in Kirgistan? Warum war die Bevölkerung vom gestürzten und inzwischen zurückgetretenen Präsidenten Kurmanbek Bakijew eigentlich so enttäuscht? Er war doch seinerseits erst vor fünf Jahren durch eine Revolution an die Macht gekommen und noch im Juli 2009 bei seinen Präsidentschaftswahlen mit 76 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt worden.

Gut, das hatten Beobachter der OSZE damals die Durchführung der Wahl kritisiert. Über die Ursachen spreche ich mit der Rechtsanwältin Olga Ametistova. Bis vor zehn Tagen war sie noch im Auftrag der EU und der GTZ als Expertin zur Unterstützung der Justizreform in Kirgistan. Ich grüße Sie, Frau Ametistova!

Olga Ametistova: Guten Morgen!

Heise: Sie sind am 5. April aus Kirgistan abgereist, einen Tag später wurde ein Oppositionspolitiker verhaftet, und dann kam es in der Folge zu diesen blutigen Unruhen, bei denen über 80 Menschen gestorben sind ...

Ametistova: Richtig.

Heise: ... umgekommen sind, erschossen wurden. Wie haben Sie die Zeit unmittelbar davor wahrgenommen? Lag für Sie spürbar Spannung in der Luft?

Ametistova: Für mich persönlich nicht. Ich verbrachte im Lande zweieinhalb Monate insgesamt, arbeitete intensiv, konnte aber auch sehr viel beobachten. Ich hatte den Eindruck, dass ich mich in einem Land befinde, das zwar seit Jahrzehnten sich als Insel der Demokratie versteht, also dieses Selbstverständnis hat, das aber allmählich und unaufhörlich auf ein autoritäres Siechtum zudriftet.

Die Erscheinungen dieses Siechtums hatte ich durchaus beobachten können. Allein die Verfassung, die ich zu analysieren hatte als Expertin, zeigte, wie enorm die breit die Vollmachten des Präsidenten waren, wie wenig das Parlament zu sagen hatte. Das allein war für mich bereits ein sehr trauriges Zeichen.

Heise: Das waren ja eben Reformen, die Bakijew eingeleitet hatte, die jetzt eigentlich erst umgesetzt und auf die Verfassung, ja, mit der Verfassung konform gehen sollten. Sie haben persönlichen Kontakt natürlich gehabt, Sie haben mit den Menschen direkt dort gearbeitet, mit Leuten, die da eben auch mit dem Recht zu tun haben. Wie sind diese Personen Ihnen begegnet?

Ametistova: Ich würde sagen, leichte Resignation, die wahrscheinlich nur leicht mir gegenüber war. Ich glaube, Resignation war viel stärker. Viele von denen befanden sich in einer Art innerer Emigration. Die Eliten des Landes sind nicht besonders breit gestreut.

Heise: Gut, nun kann man natürlich verstehen, wenn man von der anderen Seite kommt sozusagen, wenn dann also durch die Revolution von vor fünf Jahren jemand anders Ihnen vorgesetzt wird, dass Sie dann in eine Resignation verfallen oder dass Sie sich zurückziehen, ist ja eigentlich klar, weil Sie quasi aus der Opposition oder aus einer Opposition da kamen. Aber jetzt insgesamt auch haben Sie Leute getroffen, die Hoffnungen in Bakijew gesetzt hatten und das so im Laufe der Jahre nachgelassen hat?

Ametistova: Also in der Zeit, wo ich im Lande war, hat kein Mensch von Hoffnungen mehr gesprochen. Es gab Hoffnungen, die in die Revolution insgesamt gesetzt wurden. Man hat gehofft, dass diese Akajew'sche Korruptionsherrschaft, wie man meinte, wobei natürlich die Korruption, die jetzt im Lande herrschte die letzten fünf Jahre, einfach nicht damit zu vergleichen war, dass diese Herrschaft mit der Ankunft des neuen Präsidenten zu Ende ist. Und dann hat man gesehen, der neue Präsident baut letztendlich seine Macht auf den Spuren, auf dem Fundament des alten noch hemmungsloser aus.

Heise: Die wirtschaftliche Situation Ihrer Kollegen, wie haben Sie die erlebt?

Ametistova: Meine Kollegen waren Mitarbeiter eines internationalen Projekts, sie waren hoch qualifizierte Spezialisten, es waren viele von denen Professoren, erfolgreiche Geschäftsleute, Anwälte. Deren Situation war nicht schlecht.

Insgesamt war die Situation im Lande sehr problematisch, man hat so sich durchgewurschtelt, in den Dörfern, habe ich gesehen, lebt man von Hand in den Mund. Ich glaube, vor allem helfen sich die Leute einander, zu überleben. Die Familienbande sind sehr stark – wenn eine Person an einen einträglichen Job kommt, dann wird der Rest irgendwie hinzugefügt. Das hilft natürlich enorm, zu überleben. Aber das war sehr, sehr traurig zu beobachten, wie stark die wirtschaftliche Lage sich verschlechtert hat.

Heise: Hat sich in den letzten fünf Jahren eben auch noch verschlechtert?

Ametistova: Ich hatte den Eindruck beispielsweise, dass die Stadt Bischkek seit 30 Jahren einfach nicht asphaltiert wurde. Es ist wahrscheinlich möglicherweise nicht ganz richtiger Eindruck, aber die Gebäude wurden nicht renoviert. Dieser schöne Ala-Too-Platz, da wurden die Granitplatten definitiv nicht gepflegt, mit denen der Platz ausgestattet ist. Also da wuchs Gras durch. Man hatte den Eindruck dieses allgemeinen Verfalls in der Tat.

Heise: Was natürlich dann auch wieder zu Resignation und Enttäuschung führt. Im "Radiofeuilleton" ist die Situation in Kirgistan unser Thema. Olga Ametistova war gerade als Expertin der GTZ in dem zentralasiatischen Land, und ich spreche mit ihr über die Hintergründe des Konflikts.

Sie haben gesagt, die Hauptkritik an Bakijew war eigentlich die Fortführung oder noch Vergrößerung der Vetternwirtschaft, der Korruption. Wie stark wird Kritik aus dem Volk eigentlich gehört, wie stark ist die Meinungsfreiheit ausgeprägt?

Ametistova: Also es gibt eine sehr interessante Erscheinung im Lande, die auf eine Jahrhunderte lange Tradition zurückgeht, die Kurultaj. Das ist eine Volksversammlung bei den Nomaden gewesen, Kirgisen ist ja ein stolzes Nomadenvolk, das seit nicht mehr als 100 Jahren sesshaft geworden ist. Auf diesen Kurultajs durfte alles gesagt werden, was gesagt werden musste. Interessanterweise hat sowohl Akajew als auch Bakijew die Tradition fortgesetzt.

Akajew hat mehr auf Referenten gesetzt, Bakijew hat direkt das Wort Kurultaj benutzt bei den letzten Volkszusammenkünften, die er im März, am 23. und 24. März dieses Jahres veranstaltet hat. Seine Art von Kurultaj war dazu bestimmt, seine Politik zu bestätigen. Stattdessen gab es äußerst kritische Stimmen auf diesem Kurultaj.

Heise: Also auch da wagte man sozusagen ...

Ametistova: Erstaunlicherweise.

Heise: ... tatsächlich Kritik an ihm zu üben.

Ametistova: Genau. Gedacht das war als, definitiv als potemkinsche Dorf, stattdessen wurde sowohl Bakijew als auch der Premierminister Huseynov sehr stark auf diesen Kurultajs kritisiert, was mich sehr gefreut hat, weil ich gesehen habe, diese natürliche Tradition der Meinungsfreiheit, die ist in diesem Lande gab, die wird weiter fortgesetzt. Und möglicherweise auch, diese zwei Revolutionen sind ebenfalls diesem Wunsch geschuldet, doch seine Meinung zu sagen.

Heise: Der inzwischen zurückgetretene Präsident hat sich, bevor er nach Kasachstan ausgeflogen ist, in seiner Heimat, im Süden aufgehalten. Es werden ja immer wieder Befürchtungen geäußert, Kirgistan könnte in Nord und Süd zerfallen. Geben Sie uns doch mal so einen, so einen Eindruck davon, wie unterschiedlich ist denn Nord- und Süd-Kirgistan?

Ametistova: Man könnte grob sich so vorstellen, Norden ist laizistisch, relativ modern, urban, insoweit als die Hauptstadt Bischkek da liegt. Frauen werden durchaus freundlich behandelt. Süden ist islamischer, Süden liegt an der Grenze zu Usbekistan und Tadschikistan, da sind die Stammes- und Clanstrukturen viel stärker.

Das Wort rückständig würde ich äußerst vorsichtig benutzen, aber was Tatsache ist, dass Drogenproblematik im Süden definitiv stärker, gerade wegen der Grenze zu Tadschikistan und dann die Verbindungen zu Afghanistan, viel stärker vertreten ist. Und man muss aber sagen, der Gegensatz zwischen Nord und Süd war eher wichtig vor fünf Jahren, als Bakijew als sozusagen Vertreter des Südens an die Macht kam und auch mithilfe seiner Garden, seiner Truppen an die Macht kam. Momentan hat man den Eindruck, dass das ganze Land gegen Bakijew ist.

Heise: Wahrscheinlich hat dies und dann eben der Einfluss – man hört es ja aus den USA, sowohl Präsident Obama als auch Medwedew aus Russland haben sich ja eingeschaltet – haben dann dazu geführt, dass er eben letztendlich auch zurückgetreten ist. Die Übergangsregierung wird ja im Moment geführt von der Oppositionspolitikerin Otunbajewa. Hat eine Frau, die aus dem Norden stammt, die sehr prowestlich und russisch eingestellt ist, hat die Chancen bei der einfachen Bevölkerung, hat die Chancen, dieses Land jetzt wieder zu einen?

Ametistova: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, ich als Außenstehende kann es nicht ausreichend beantworten. Die Tatsache ist, dass diese Frau als Erste an die Spitze der Übergangsregierung gestellt wurde, dass sie zwei beziehungsweise drei männliche Stellvertreter hat. Die Tatsache ist, dass die letzten 20 Jahre Frauen durchaus sehr hohe Posten in Kirgistan eingenommen haben.

Sie selbst war ja Außenministerin, sie war Botschafterin in England und Amerika. Ich hatte zu tun als Expertin in diesem Projekt mit mehreren Richterinnen des Obersten Gerichts, mit exzellenten Spezialistinnen, auch beide Vorsitzende des Verfassungsgerichts des Landes waren Frauen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es weitergeht. Man schaut jetzt nicht in die Verhandlungsräume hinein.

Heise: Ich habe die USA und Russland erwähnt, die internationalen Verflechtungen in Kirgistan sind ja doch immens, und da kommt dann auch noch China hinzu. Wie sieht das aus?

Ametistova: Also erstens, mein Eindruck war, Kirgistan bleibt weiterhin ein sehr offenes Land. Es hat mich sehr gefreut, in der Stadt Bischkek wimmelte es vor ausländischen Spezialisten jeder Art. Ausländische Organisationen, solche wie eben unsere GTZ, USAID, UNDP Development Programme, japanische (…) sind sehr, sehr gut vertreten, machen Projekte seit 20 Jahren.
Der Punkt bei diesen internationalen Verflechtungen in Kirgistan ist natürlich der Militärstützpunkt in Manas, im Flughafen Manas. Natürlich sind die Amerikaner sehr daran interessiert – waren und sind es – diesen sehr wichtigen Umschlagspunkt auf dem Wege nach Afghanistan zu behalten.

Russland ist genauso daran interessiert, die Amerikaner herauszubekommen, denn Russland betrachtet Kirgistan als sozusagen die Zone ihrer eigenen Interessen. Deswegen waren in der Vergangenheit sehr interessante Vorgänge um diesen Militärstützpunkt haben stattgefunden. Russen haben Bakijew einen großen Kredit vorgeschlagen dafür, dass er den Militärstützpunkt, sozusagen den Vertrag aufhebt. Daraufhin haben die Amerikaner die Pacht vervierfacht, woraufhin Bakijew schwach wurde, woraufhin ...

Heise: Denn die Einnahmen der Pacht braucht das Land.

Ametistova: Genau, genau ... woraufhin Russland natürlich äußerst sauer geworden ist.

Heise: Trotzdem, so, wie Sie Kirgistan geschildert haben, also ist das Land selbstbewusst genug, als nicht als Spielball der Mächte zu gelten?

Ametistova: Ich weiß, dass es die Leute empört, dass man sie als Spielball der Mächte sieht, definitiv. Ob die Regierung zuletzt sich als eine solche präsentiert hat oder nicht, das kann man unterschiedlich beurteilen. Die Frage liegt jetzt bei der Übergangsregierung, wie sie sich weiter entscheiden.

Heise: Ein Bürgerkrieg jedenfalls scheint abgewendet ...

Ametistova: Gott sei Dank.

Heise: ... durch den Rücktritt Bakijew und dadurch, dass er sich nicht mehr im Land befindet. Die Situation in Kirgistan und die Hintergründe. Olga Ametistova, ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Eindrücke und Einschätzungen.

Ametistova: Gern geschehen, vielen Dank!