Ein Abgrund von Staatsversagen

Von Lorenz Maroldt, Chefredakteur Tagesspiegel · 19.11.2011
Kaum war die Nachricht vom Terror der Zwickauer Neonazis bekannt, sprach die Kanzlerin über ein neues NPD-Verbotsverfahren. Dabei muss es jetzt zunächst darum gehen, das Versagen der Behörden und ihrer politischen Kontrolleure zu untersuchen, meint Lorenz Maroldt.
Das war eine unheimliche, eine schockierende Woche. Und niemand weiß, ob die kommende besser wird. Tag für Tag werden neue Details bekannt über den Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds. Es ist nicht allein die Zahl der Toten und Verletzten, die einem ganzen Land den scheinbar sicheren Boden unter den Füßen wegziehen. Es sind die Fragen, die sich plötzlich wie ein Abgrund auftun. Und es ist die Erkenntnis, dass die Antworten schrecklich sein werden, so oder so.

38 verschiedene Sicherheitsbehörden arbeiten in Deutschland. Überall haben sie ihre Informanten, bei Linksextremisten, bei Islamisten, bei Neonazis. Und die Ämter arbeiten besser, als es derzeit aussieht. Mehrere Attentate von Islamisten konnten verhindert werden. Aber niemand, wirklich niemand hat mitbekommen, dass es eine gut vernetzte Nazibande mit vielen Helfern gab, die neun Migranten und eine Polizistin erschossen hat, immer mit derselben Waffe? Niemand, wirklich niemand hat bemerkt, dass drei mit Haftbefehl gesuchte Rechtsextremisten mit einem Wohnmobil und zwei Fahrrädern unterwegs sind, um Banken zu überfallen und Bomben zu legen? Keinem sind sie aufgefallen, nicht auf den verblüffend exakt gezeichneten Steckbriefen, nicht an ihrem Wohnort, einem bürgerlichen Haus in Zwickau? Kein Staatstrojaner, keine Handypeilung brachte die Ermittler auf ihre Spur?
Es wäre ein erschütterndes Versagen von Institutionen, denen Bürger und Politiker oft genug blind vertrauen. Doch fürchterlicher als das ist die andere Antwort, ein ungeheuerlicher Verdacht: Hat irgendjemand die Täter gedeckt, sie vielleicht sogar unterstützt? Eine Staatskrise wäre die Folge.

Die wenigen Fakten, die bisher bekannt sind, zeichnen jedenfalls ein verheerendes Bild. Tödliches Fahndungsversagen, brauner Terror, der nicht als solcher erkannt wird, ein Beamter des Verfassungsschutzes mit rechtsradikaler Vita direkt am Tatort – das ist einfach zu viel. Entsprechend groß ist die Empörung. Entsprechend großspurig sind auch die Versprechen der Politik. Doch darauf ist kein Verlass.

Zuletzt war Rechtsextremismus kein großes Thema in Deutschland, obwohl es ihn die ganze Zeit gab. Weil in Berlin Autos und Bahnkabel brannten, warnten viele lieber vor dem Terror von links, vor einer neuen Roten Armee Fraktion. Indizien dafür gab es keine. Auch davor galt das Interesse der Öffentlichkeit nicht etwa dem Schutz von Migranten, sondern ihrer angeblichen Unfähigkeit zur gefälligen Integration. Die schwarz-gelbe Bundesregierung machte unterdessen den Projekten gegen Rechtsextremismus die Arbeit schwer. Sie kürzte ihnen die Mittel und unterstellte ihnen pauschal linksradikale Motive.

Das alles meinte Bundeskanzlerin Merkel nicht, als sie angesichts der jetzt aufgedeckten Mordserie von einer "Schande" sprach. Aber anstatt zu einer großen Geste gegenüber den Familien der Opfer reichte es wieder nur für willkürlichen, reflexartigen Aktionismus. Kaum war die Nachricht vom Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds raus, kratzte die Kanzlerin auch schon an der Oberfläche herum: Ein neues Verbotsverfahren gegen die NPD stehe jetzt auf der Tagesordnung, erklärte Angela Merkel, und viele andere stimmten ihr zu. Dabei muss es jetzt erst einmal darum gehen, das Versagen der Behörden zu untersuchen - und auch das Versagen der Kontrolleure der Dienste, also: der Politik. Ministerpräsidenten, Innenminister, parlamentarische Kontrollkommissionen - sie alle sind zuständig für den Verfassungsschutz. Von der Aufklärung der Pannen hängt es deshalb auch ab, ob der Staat das erschütterte Vertrauen zurückgewinnen kann. Ein NPD-Verbotsverfahren lenkt da jetzt nur ab.

Ohnehin gibt es kaum einen Ansatz für ein neues Verfahren. Schon das erste war ja daran gescheitert, dass zu viele V-Leute die NPD führten. Das ist heute nicht anders. Nur haben die vielen Informanten in der rechtsextremistischen Szene die Mordserie auch nicht verhindert. Wozu hat man die V-Leute dann?

Mehr als 150 Menschen wurden von Rechtsextremisten seit der Wiedervereinigung in Deutschland getötet, tausende Menschen zum Teil schwer verletzt, für den Rest ihres Lebens gezeichnet. Aber unsere Gesellschaft hat diesen Terror immer wieder verdrängt und vergessen, verharmlost und unterschätzt. Das ist die Schande. Und die große Gefahr. Eine Zentraldatei für Rechtsextremisten, wie jetzt beschlossen, ist gut. Eine Konzentration der zersplitterten Verfassungsschutzämter, wie auch gefordert, ist besser. Doch am wichtigsten ist es, nicht wieder so schnell zu vergessen.
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