"Eigentlich keine Beichte"

Moderation: Susanne Führer · 18.01.2013
Zu einer Beichte gehöre das Eingeständnis, dass man vorsätzlich gehandelt habe, sagt Friedrich Wilhelm Graf, Professor für systematische Theologie und Ethik. Lance Armstrong habe sich allerdings als Opfer eines Systems inszeniert. Das sei weit von der Tradition der Beichte entfernt.
Susanne Führer: Lance Armstrong hat nun also auch selbst öffentlich eingeräumt, wessen er schon überführt war. In der vergangenen Nacht wurde sein Interview mit Oprah Winfrey ausgestrahlt. Ein Bericht von Rolf Büllmann (MP3-Audio) Rolf Büllmann berichtet.

Soweit der Bericht von Rolf Büllmann über die sogenannte TV-Beichte von Lance Armstrong. Was dieser Auftritt noch mit der kirchlichen Beichte zu tun hat und welche Funktion solche öffentlichen Schuldbekenntnisse heute haben, darüber will ich nun mit Friedrich Wilhelm Graf sprechen. Er ist Professor für systematische Theologie und Ethik an der LMU München. Guten Morgen, Herr Graf!

Friedrich Wilhelm Graf: Guten Morgen!

Führer: Was meinen Sie, war das eine Beichte?

Graf: Also das ist natürlich zunächst eine Medieninszenierung, mit der Lance Armstrong versucht, eine Debatte, die er gar nicht mehr beeinflussen kann, dann doch noch zu beeinflussen. Er hat ja nichts gesagt, was wir nicht schon wussten und was nicht juristisch klar festgestellt ist.

Wenn man sich anschaut, in welcher Rhetorik er über sich spricht, dann ist es eigentlich keine Beichte, weil zu einer Beichte im traditionellen Sinne gehört Reue, gehört das Eingeständnis, dass man vorsätzlich gehandelt hat, und er schildert ja eher die Sicht als jemand, der Opfer eines Systems ist.

Führer: Ja, Reue, sagen Sie - er sagt zum Beispiel an einer Stelle: Die Leute, die mich unterstützt haben, die an mich geglaubt haben, haben jetzt jedes Recht darauf, sich betrogen zu fühlen. Er sagt aber nicht: Ich habe sie betrogen.

Graf: Genau, das ist die interessante Sprache, dass er sozusagen von einem System redet, in dem alle das getan haben, dass er davon redet, dass das Teil seines Jobs gewesen sei, so selbstverständlich wie die Luft in den Reifen, und das ist wenig Rede davon, dass er das Subjekt all dieser Taten gewesen ist.

Führer: Trotzdem gibt es Ähnlichkeiten zur Beichte, oder?

Graf: Na ja, also traditionell war es so, dass eine Beichte in einem ganz klar von der Öffentlichkeit abgeschotteten Raum stattfand und dass gerade die Intimität die Beichte auszeichnet, ja, mit der klaren Botschaft des Priesters, dass er darüber nie reden wird - er darf es auch nicht, das ist Teil sozusagen der priesterlichen Selbstbeschreibung, der Berufsbeschreibung -, ...

Führer: Genau, und das Beichtgeheimnis.

Graf: Genau, und das Beichtgeheimnis, das ist das entscheidende Stichwort. Hier wird was anderes gemacht. Hier wird sozusagen ein mediales Interesse bedient. Das ist für Lance Armstrong auch deshalb wichtig, weil er eine ganze Reihe von juristischen Konflikten weiter auszutragen hat - das ist Teil der Strategie, dann doch noch der Öffentlichkeit sich als eine Art Held eigener Art zu vermitteln. Insofern: Das ist weit von der Tradition der katholischen Beichte entfernt.

Führer: Sie haben gerade gesagt, die Beichte, etwas Intimes, Privates. Das setzte sich dann ja auch fort als ... ja, man kann auch die Psychoanalyse ja als eine Art von Beichte betrachten, wo ja auch dann der Neurotiker dem Analytiker beichtete. Und beide versprachen so eine Art von Erlösung eben, die Kirche Erlösung von den Sünden, die Analyse von den Schuldgefühlen.

Man kann sich ja fragen: Wenn jetzt das trotzdem immer so genannt wird, TV-Beichte - wo kommt dann die Erlösung her und wer wäre dann derjenige, der da vergibt? Die Öffentlichkeit?

Graf: Ja, das mag sein, dass es Gruppen in der amerikanischen Gesellschaft gibt, die jetzt sagen: Er hat doch gebeichtet und jetzt müssen wir ihm auch seine Sünden vergeben. Die Tradition ist hier hilfreich, die Tradition hat nämlich immer gesagt, dass Sündenvergebung eine wirkliche Umkehr in der Lebensführung bedeuten muss, sie hat die These vertreten, dass der Sünder in sich gehen muss, dass er ernsthafte Zeichen der Reue zeigen muss, das heißt im theologischen Fachjargon Contritio, darüber hat es große Bücher gegeben, und immer ist die Ernsthaftigkeit, der Wille zur Umkehr das Entscheidende gewesen.

Im psychoanalytischen Diskurs ist es ähnlich. Man macht ja eine Psychoanalyse, weil man sich sozusagen bessere Selbsterkenntnis erhofft in der Absicht, dann ein neues Selbst werden zu können. Und von dem neuen Selbst habe ich in dem, was ich bisher von dem Interview von Lance Armstrong gehört habe, nicht viel gesehen, wahrnehmen können.

Führer: Über christliche und Fernsehbeichten spreche ich mit dem Theologen Friedrich Wilhelm Graf. Herr Graf, aber zumindest hat Armstrong ja versucht, dieses Muster zu bedienen. Es gibt ja andere, wenn wir mal beim Radsport bleiben, Jörg Jaksche zum Beispiel, der hat ja schon 2007 öffentlich und unter Tränen das eingeräumt, und der sagte dann auch später: Es war wie eine Befreiung.

Graf: Das kann für Armstrong selbst in der Tat eine Befreiung sein, weil er jetzt nicht mehr mit dem Vorwurf leben muss, dass er vorsätzlich noch immer lügt. Jetzt kann er sagen: Ich habe es ja gestanden. Und er kann weiter sagen: Die Leute haben recht, wenn sie mich verachten - aber er sagt das natürlich mit der Intention, dass er nicht mehr verachtet wird. Insofern ist es Teil einer, wie ich finde, sehr interessanten, medial inszenierten Strategie, in die Öffentlichkeit zurückzukommen. Es ist keine Ächtung durch die Gesellschaft, sondern man kriegt ein großes Forum geboten, in dem man sich noch einmal inszenieren kann.

Führer: Der reuige Sünder kann ja auf Sympathie zählen im Allgemeinen, vielleicht ja sogar mehr noch in den USA als in Deutschland. Kann das sein?

Graf: Ja, die Religionskultur der USA ist schon sehr anders. Das sozusagen expressive Bekennen ist Teil der amerikanischen Religionskultur immer gewesen. Wie die Amerikaner jetzt darauf reagieren, das ist im Einzelnen schwer zu sagen, weil ja die Aufarbeitung des ganzen Problems noch weiter fortschreitet: Die Sponsoren des Rennstalls, für den Armstrong gefahren ist, haben mit Verfahren zu rechnen, es laufen eine ganze Reihe von Privatklagen gegen Armstrong - das wird uns also noch lange beschäftigen.

Führer: Wenn wir mal andere reuige öffentliche Sünder betrachten: So in Deutschland fallen mir dann zum Beispiel ein Harald Juhnke, Franz Beckenbauer, Horst Seehofer - da ging es immer so um private Fehltritte -, ich glaube, das hat ganz gut funktioniert.

Und eine, die dann auch von ihrem Amt zurückgetreten ist, also bereut hat und auch tätige Buße geleistet hat: Margot Käßmann. Da hat es dann ja auch funktioniert, der hat die Öffentlichkeit ja auch vergeben, oder?

Graf: Bei Frau Käßmann war ja deutlich zu spüren, dass sie wirklich von ihrem Amt Abschied nimmt, die hat ja wirklich etwas getan, also den Fall würde ich ganz anders sehen als Lance Armstrong.

Führer: Genau.

Graf: Und die anderen Fälle, die Sie genannt haben, also Franz Beckenbauer, Horst Seehofer und so weiter, da war deutlich, dass man sich zur Öffentlichkeit verhalten musste, und da ging es nicht um Leute, die sozusagen gegen andere, die das vorher schon gesagt haben, mit harten Mitteln juristisch vorgegangen sind.

Wir reden im Falle von Lance Armstrong nicht nur von jemandem, der gedopt hat und systematisch gelogen hat, sondern der auch andere Kollegen, Mitfahrer seines Teams, die das gesagt haben, massiv unter Druck gesetzt hat, teils juristisch, teils mit wirklich erpresserischen Methoden.

Führer: Das stimmt, aber sie alle verbindet doch, dass sie sozusagen erst gebeichtet haben, in Anführungszeichen, etwas, was ohnehin schon der Öffentlichkeit bekannt war. Also scheint uns gar nicht mehr so sehr die Beichte an sich vielleicht zu interessieren, also uns jetzt, das Publikum, sondern, dass da jemand steht und wirklich bereut.

Graf: Also, ist es eine Beichte, wenn ich sage: Ja, das was über mich gesagt wird, was rausgekommen ist, das stimmt? Das hat mit der alten Beichte im Sinne der christlichen, kirchlichen Tradition nicht allzu viel zu tun. Mir ist es wichtig, im Falle von Lance Armstrong noch mal zu betonen: Es ist am Ende eines langen Prozesses, darüber wird seit Langem geredet und er hat immer wieder Anwälte genommen, um Leute, die ihm das vorgeworfen haben, unter Druck zu setzen, ihnen das verbieten zu lassen und so weiter.

Führer: Was ihm jetzt aber angeblich auch leidtut. Er hat ja eine Physiotherapeutin, die gegen ihn ausgesagt hat, sie habe ihn beim Epo-Doping gesehen, hat er damals als Hure beschimpft.

Graf: Ich weiß. Ob er sich jetzt persönlich bei ihr entschuldigt hat, das weiß ich nicht. Mir ist es aber wichtig sozusagen, den Unterschied der Fälle, die Sie genannt haben hier in Deutschland, zu Lance Armstrong zu betonen. Bei Lance Armstrong ist es seit Jahren so, dass er systematisch gegen Leute, die ihn des Dopings bezichtigt haben, gegen die vorgegangen ist. So was kennen wir im Falle Beckenbauer, Seehofer, Käßmann nicht.

Führer: Das stimmt, aber es gibt doch trotzdem offenbar so eine Faszination des Publikums - wenn wir jetzt von diesem Fall Lance Armstrong doch mal absehen, Herr Graf - für diese öffentlichen reuigen Sünder, also auch so für dieses Grundmuster, Sünde, Beichte, Reue, Buße, Vergebung. Warum ist das immer noch so attraktiv, auch für die Säkularisierten?

Graf: Also, so säkularisiert sind die Leute offenkundig gar nicht, sondern sie haben durchaus Interesse daran, zu sehen, ob ihre Helden nun wirklich Vorbilder sind. Sie haben Interesse zu sehen, ob es so etwas wie moralische Integrität gibt. Und wenn man sieht, dass es die bei vielen Prominenten nicht gegeben hat oder im Moment nicht gibt und so, dann hat man das Interesse daran auch, zu beobachten, wie diese Prominenten damit umgehen. Also man sieht nicht nur Aufstieg, sondern man sieht auch den Fall, und daran kann man sich durchaus ergötzen.

Führer: Das stimmt, und man kommt dann vielleicht ja sogar auch eben in die Rolle desjenigen, der vergibt.

Graf: Wenn die Öffentlichkeit bereit ist, zu vergeben, dann ist das sicherlich für den Betroffenen sehr, sehr gut. Aber das bedeutet natürlich, dass man sich wirklich bei denen entschuldigt und mit denen klarkommt, die man da bisher unter Druck gesetzt hat und so weiter. Die Öffentlichkeit selbst ist ein sehr anonymes Subjekt. Es geht um die konkret Betroffenen.

Führer: Ja, aber jeder Zuschauer kann sich doch auch so als in einer kleinen mächtigen Machtposition fühlen, denn er wird ja adressiert. Es geht ja darum: Vergebe ich Horst Seehofer, Margot Käßmann, Bill Clinton?

Graf: Also, Allmachtsfantasien haben viele, die haben wir vielleicht auch alle, behaupten manche Psychoanalytiker jedenfalls, und es ist natürlich etwas Wunderbares, wenn man da sitzt und sieht, wie einer stammelt, wie einer unter Druck gerät, wie einer sich zu entschuldigen versucht, das hat auch etwas von Inszenierung.

Wie ernsthaft das war und ist, kann man im Einzelnen auch gar nicht leicht beurteilen. Wichtig ist für die Öffentlichkeit, dass überhaupt über Moral geredet wird. Also an den Fehlern der anderen kann man auch sozusagen die eigene moralische Überlegenheit in Szene setzen, obwohl die dann nicht selten auch sehr verlogen ist.

Führer: Also sozusagen ein Geschäft auf Gegenseitigkeit.

Graf: Ja, auf jeden Fall.

Führer: Vielen Dank! Das war Friedrich Wilhelm Graf, der Professor für systematische Theologie und Ethik an der LMU München. Danke fürs Gespräch, Herr Graf!

Graf: Bitte sehr!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Der ehemalige Radprofi Jörg Jaksche legte 2007 ein Dopinggestädnis ab.
Der ehemalige Radprofi Jörg Jaksche legte 2007 ein Dopinggestädnis ab.© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
Margot Käßmann
Margot Käßmann© AP
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