Ehrenrettung des Deutschen Kaiserreiches

10.07.2013
Während andere Historiker das Deutsche Kaiserreich als autoritär und demokratisch rückständig beschreiben, hält Kroll die Gesellschaft im Deutschland an der Wende zum 20. Jahrhundert für weitaus moderner und fortschrittlicher. Er kann mit seiner These jedoch nicht überzeugen.
Das Buch versucht sich an einer Ehrenrettung. Das kaiserliche Deutschland war sehr viel demokratischer, reformfähiger und moderner, als es die Mehrzahl der Historiker bisher anerkennen will, das ist die These des Autors Frank-Lothar Kroll.

In der Kaiserzeit, insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, suchten viele Historiker bislang die entscheidenden Gründe für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Das Zweite Reich erschien als hoffnungslos rückwärtsgewandte Willkürherrschaft, autoritär und für die Demokratie ungeeignet. Das Buch versucht zu beweisen, dass es anders war – und es lässt diese Zeit in einem anderen Licht erscheinen.

Die "Geburt der Moderne" ist der erste Band einer Reihe, mit der der be.bra-Verlag vor allem junge Leute ansprechen will, die ein spezifisches Interesse an "Deutsche(r) Geschichte im 20. Jahrhundert" haben – Schüler und Abiturienten etwa oder Studierende aller Fächer.

Es sind daher eher jüngere Historiker auf der Liste der Autoren, die den aktuellen Forschungsstand wiedergeben sollen. Der Chemnitzer Geschichtswissenschaftler Frank-Lothar Kroll wird in diesem Jahr 54, in seiner Zunft ist das noch kein Alter. Sein Stil ist verständlich und präzise, zugleich widersteht er der Versuchung, allzu einfach zu formulieren oder plakativ Glaubenssätze wiederzugeben. Das Buch wendet sich also an Leser mit ernsthaftem wissenschaftlichem Anspruch – dafür spricht auch die umfangreiche Literaturliste, die zum Weiterforschen anregen soll.

Krolls Ansatz ist provokant, denn er durchbricht die herkömmlichen Erklärungsmuster, nach denen das Deutsche Kaiserreich ein wirtschaftlich erfolgreicher, politisch aber rückständiger Staat war, der im Verhältnis zu den westlichen Demokratien einen Sonderweg ging. Stattdessen beschreibt Kroll das kaiserliche Deutschland als fortschrittlichen Nationalstaat, dessen demokratische Institutionen auf dem Weg in die Moderne waren und der den Vergleich mit anderen europäischen Industrieländern nicht zu scheuen brauchte.

Krolls Kernthese ist, dass das Reich ein "europäischer Normalstaat" war – dem der "deutsche Sonderweg" nach dem Zweiten Weltkrieg angedichtet wurde, um eine bequeme Erklärung für die Machtergreifung der Nationalsozialisten zu bekommen.

Kroll hebt das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht hervor, das allerdings nur für Männer ab 25 galt - neben Deutschland hatten das nur Frankreich und Griechenland vorzuweisen. Und der Einfluss der Parlamente wuchs. Auch war das Reich nicht der Zentralstaat, als der es später wahrgenommen wurde. In der Verfassung von 1871 stand der Bundesrat noch über dem Kaiser.

Das Land war dabei, sich in einem langsamen Reformprozess zu einem Rechts- und Sozialstaat zu wandeln. Die Künste und Wissenschaften blühten, die Volksbildung wurde gestärkt, ein neuartiges Schulsystem eingeführt. Selbst der Monarch erscheint bei Kroll in einem günstigeren Licht. Kaiser Wilhelm II. sei zwar ungeschickt im öffentlichen Auftritt gewesen, gleichzeitig wird er aber als ein modern denkender Förderer der Technik und des Fortschritts dargestellt – zu mancher hässlichen Drohgebärde gegenüber den Konkurrenten Deutschlands wurde er dem Autor zufolge von seinen Beratern gedrängt, gegen seinen Willen.

Hauptbremser in diesem der Moderne zustrebenden Kaiserreich war Preußen mit seinen hoffnungslos rückständigen Ostgebieten, dem ungerechten Dreiklassenwahlrecht und seiner polarisierenden Nationalitäten- und Konfessionenpolitik – es war für eine ungesunde Unwucht im kaiserlichen Deutschland verantwortlich.

Die Gründe für den Aufstieg der Nazis lagen Frank-Lothar Kroll zufolge aber nicht im Kaiserreich – sondern in der Weimarer Republik. Er verweist auf die europäischen Nachbarn, die bei den demokratischen Institutionen auch nicht weiter entwickelt waren. Aber welche Beweiskraft haben solche Vergleiche für seine kühne These? Wer die Weimarer Republik für das Ende der Demokratie verantwortlich macht, muss auch die Erblast des Kaiserreiches und des Krieges reflektieren – das fehlt bei Kroll.

Und den Widerspruch in der Entwicklung des Kaiserreiches vermag Kroll nicht aufzulösen: Auch er beschreibt das Kaiserreich als wirtschaftlich-technisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich fortschrittlichen Staat, der sich auch politisch in Richtung Moderne bewegt. Aber das Defizit bleibt unübersehbar: Mit seiner strukturkonservativen preußischen Dominanz hat auch Krolls Kaiserreich noch einen weiten Demokratisierungsweg vor sich. Kroll wirft durchaus ein anderes Licht auf das Kaiserreich als früher üblich – aber einen schlüssigen Gegenbeweis zur herkömmlichen Meinung, dass das Reich politisch rückständig gewesen sei, liefert er nicht.

Besprochen von Andreas Baum

Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne - Politik, Kultur und Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg
Band 1 der Reihe "Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert"
be.bra, Berlin 2013
224 Seiten, 19,90 Euro