"Ehre ist eine Sache des inneren Gefühls"

Winfried Speitkamp im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 08.04.2013
Dass Ex-Bundespräsident Christian Wulff einen Deal mit der Staatsanwaltschaft ausschlägt, liege an seinem Ehrgefühl, heißt es. Doch was ist das eigentlich? Die Ehre sei Bestandteil der Selbstachtung, da ginge es im übertragenen Sinn schon mal ums Überleben, erklärt der Historiker Winfried Speitkamp.
Klaus Pokatzky: Von der Ehre wird gerade wieder gern geredet, es geht um ihre Ehre, wenn der frühere Bundespräsident Christian Wulff und sein Mitbeschuldigter David Groenewold einen Deal mit der Staatsanwaltschaft in Hannover eingehen sollten. Nach dem Motto: Einstellung des Verfahrens gegen Geldauflagen. Eine "Geschichte der Ehre" hat der Historiker Winfried Speitkamp verfasst, guten Tag, Herr Speitkamp!

Winfried Speitkamp: Guten Tag!

Pokatzky: Herr Speitkamp, auf Ehre und Gewissen: Was müsste ich zu Ihnen sagen, damit Sie sich so richtig in Ihrer Ehre gekränkt fühlen und sich die Zeiten der Duelle zurückwünschen?

Speitkamp: Das ist ganz einfach, Sie müssten sagen, dieses Buch, das taugt nun wirklich gar nichts und wahrscheinlich ist es auch noch ein Plagiat!

Pokatzky: Aber das ist doch relativ einfach! Also, können Sie es nicht ein bisschen höher hängen?

Speitkamp: Ja, für Wissenschaftler ist das ganz einfach, jeder hat seine eigene Ehre, jeder Mensch ist woanders zu packen. Es gibt keine Menschen, die keine Ehrvorstellung haben, die nicht wissen, wie sie von anderen gesehen werden möchten. Und wenn man weiß, wo der andere seine Schwäche hat, sozusagen seinen Ehrpunkt hat, dann kann man ihn auch sofort treffen.

Pokatzky: Okay, jetzt haben Sie gesagt ...

Speitkamp: Sie könnten mich jetzt nicht beleidigen, wenn Sie sagen, Sie können ja nicht mal sozusagen ein Haus bauen! Nein, ich bin auch kein Architekt! Ich finde das zwar ganz schön und bewundere das, aber so können Sie mich nicht beleidigen. Aber wenn Sie sagen, Sie sind ein schlechter Wissenschaftler, und das noch mit moralischen Dingen verknüpfen, Plagiat und so weiter, dann haben Sie mich!

Pokatzky: Aber wenn ich jetzt sage, das Buch ist schlecht geschrieben, dann ist das noch keine Ehrverletzung? Plagiat ist eher Verletzung?

Speitkamp: Plagiat ist eher Verletzung, schlecht geschrieben würde mich persönlich auch ein bisschen kränken, weil ich gerne schön schreiben möchte, aber das ist natürlich dann schon wieder unterschiedlich. Mancher Wissenschaftler würde sagen, ich will auch gar nicht verständlich schreiben, ich möchte möglichst wissenschaftlich klingen, also unverständlich. Also, das ist schon wieder sehr individuell. Schlecht geschrieben ... Kommt darauf an, wie. Aber auch bei Rezensionen, Buchbesprechungen, die ein Wissenschaftler kriegt, er reagiert natürlich dann immer darauf, wie besprochen wird, und ist manchmal doch ein bisschen gekränkt. Das gibt man natürlich nicht zu, aber ...

Pokatzky: Wo sind die Grenzen zwischen Kränkung und Ehrverletzung?

Speitkamp: Kränkung geht in Ehrverletzung über. Kränkung kann auch abstrakt bleiben, ohne dass man sie ganz fassen kann. Man fühlt sich gekränkt, kann es aber nicht festhalten. Bei Ehrverletzung weiß man ganz genau, der hat einen bestimmten Punkt angesprochen, da fühle ich mich falsch beurteilt und jetzt überlege ich, wie kann ich reagieren. Kann ich vor Gericht ziehen oder kann ich ihn widerlegen, indem ich einen Gegenartikel schreibe, oder fordere ich ihn zum Duell? Im 19. Jahrhundert hätte man es vielleicht so gemacht et cetera.

Pokatzky: Die Wissenschaftler, hatten Sie gesagt, haben ihre Ehre, auch andere Berufe haben ihre Ehre. Hat jeder Beruf diesen Ehrbegriff?

Speitkamp: Ich glaube ja, dass ziemlich viele Berufe, wenn nicht alle, einen Ehrbegriff haben. Früher hat man ja auch ausdrücklich von Handwerkerehre gesprochen, es gibt heute noch Ehrengerichte in bestimmten Berufen, wo es um Verstöße gegen bestimmte Normen und Ansprüche eines Berufes geht. Also, es gibt durchaus eine Ehrvorstellung, auch ein Journalist hat sicherlich seine Ehrvorstellung, zum Beispiel Informanten nicht preiszugeben. Das ist einerseits natürlich eine Frage, die seinen Beruf auszeichnet, aber andererseits eben doch auch eine Frage, die etwas mit seiner Ehre zu tun hat, Vertrauen zu halten.

Pokatzky: Welchen Ehrbegriff hat der Politiker?

Speitkamp: Eine schwierige Frage, ich bin kein Politiker, um mal politisch zu antworten!

Pokatzky: Aber Sie sind auch kein Journalist und Sie haben jetzt über Journalisten und Handwerker gesprochen, sind auch kein Handwerker!

Speitkamp: Das war gut gekontert, also ...

Pokatzky: Genau, jetzt habe ich Sie an Ihrer Ehre gepackt!

Speitkamp: Richtig. Also, Sie sehen bei den Ehrenwortsaffären von Barschel und Kohl, dass die ja gezielt in einer ganz bestimmten Extremsituation sich auf ihr Ehrenwort zurückgezogen haben und gesagt haben, in der Situation bin ich jetzt nicht mehr Politiker und auch nicht mehr sozusagen juristisch Verantwortlicher, sondern einfach ein Ehrenwort Gebender und ich muss mich an dieses Ehrenwort halten, was höher steht sozusagen als alles andere. Wir unterstellen immer ...

Pokatzky: Entschuldigung, wenn ich da kurz unterbrechen darf ...

Speitkamp: Ja?

Pokatzky: Das waren ja zwei verschiedene Ebenen. Also, bei Barschel war es ja nun so, dass das Ehrenwort sich danach in Luft aufgelöst hat und auch der frühere Ehrenmann Barschel nicht mehr als Ehrenmann da war. Bei Kohl können wir sagen, er hat da es mit dem Gesetz nicht so genau genommen. Aber ist er durch sein Ehrenwort nicht gerade dann zum Ehrenmann auch in so einem ganz altmodischen Sinne geworden?

Speitkamp: Ja, zumindest hat er versucht, es auf dieser Schiene zu lösen, das Problem, und ganz klar zu sagen, ich habe hier ein Ehrenwort gegeben, das ist höher als meine juristische Verantwortung. Und - deswegen -ich muss mich an dieses Ehrenwort halten. Da hat er sozusagen den alten Mythos des Ehrenmannes wieder ausgegraben und sehr gut zu Ende gespielt.

Pokatzky: Hat er Sie überzeugt damit?

Speitkamp: Ich bin nicht ... Na ja, Ehre ist keine Frage der Überzeugung. Ich glaube, er hat das konsequent gemacht, und ich glaube auch, dass er daran in gewissem Maße geglaubt hat.

Pokatzky: Wenn Sie sagen, Ehre ist keine Sache der Überzeugung, wovon ist Ehre dann eine Sache?

Speitkamp: Ehre ist eine Sache des inneren Gefühls, des Selbstwertgefühls, der Selbstachtung, des Versuches, sein Selbstbild mit dem Außenbild in Einklang zu bringen, überhaupt überleben zu können. Das ist sozusagen, glaube ich, die Basis dafür, dass man überlebt, im etwas übertragenen Sinne.

Pokatzky: Aber warum hat Ehre denn bei uns heutzutage doch, ja, ganz oft von vielen Leuten so betrachtet, dieses vollkommen Altmodische, um nicht zu sagen Archaische? Wenn Ehre, wie Sie das jetzt beschrieben haben, doch etwas ist, das im Grunde zu jedem Menschen gehört?

Speitkamp: Ja, erstens ist es durch bestimmte Praktiken im 19. Jahrhundert, das Duell, doch einigermaßen lächerlich geworden. Nicht wahr, wenn sich Studenten da duellieren oder Offiziere wegen alberner Kleinigkeiten sozusagen gegenseitig umbringen!

Pokatzky: Ja, aber auch Karl Marx und Heinrich Heine, auch Karl Marx und Heinrich Heine, also, das waren nicht nur Offiziere, also, das waren ja ...

Speitkamp: Ja, ja, genau, da kommt es schon. Und dann ist der Begriff natürlich durch den Nationalsozialismus desavouiert.

Pokatzky: Die SS-, das SS-Motto "Meine Ehre heißt Treue".

Speitkamp: Genau, ein exzessiver Ehrenkult, das ist in völlig absurder Weise so zu sagen. Aber die wussten natürlich genau, dass sie da an was anspielen, was bei manchen Menschen nämlich doch schlummert. Die Nationalsozialisten haben ja auch unzählige Ehrenzeichen verliehen, Orden, bis zum Mutterkreuz. Also gespielt mit der Ehre. Und der Begriff ist natürlich auch wirklich archaisch und erscheint absurd, aber er wird eben ... Er bezeichnet etwas, was noch allenthalben präsent ist. Auf den Sportseiten ist ständig von Ehre die Rede, wir reden ja auch von Ehrenbürgern und anderen.

Pokatzky: Wir reden auch von Ehrenmord, wir reden auch von Ehrenmord.

Speitkamp: Wir reden von Ehrenmord, mit Anführungszeichen oft, weil wir eben denken, ist das richtig, diese Verbindung so zu bezeichnen, ist das nicht eine Verharmlosung? Wie auch immer sozusagen, Ehre spielt sehr wohl noch eine Rolle für bestimmte Gruppen, immer noch für bestimmte Personen, letztlich für jeden sozusagen. Über den archaischen Begriff kann man streiten, aber was damit zusammenhängt, Anerkennung, Prestige. Ich lebe nicht nur vom Brot allein, sondern auch davon, dass die Mitmenschen mich akzeptieren, ich lebe in Gesellschaft, ich bin sozusagen kein Robinson auf einer Insel. Und ob der Ehre hat, darüber kann man streiten, aber sobald ich mit anderen Menschen zusammen bin, muss ich auch über meine Anerkennung, über eine Achtung mit anderen Menschen mich austauschen.

Pokatzky: Aber wenn Sie jetzt so einen Begriff hören wie Ehrenmord im Zusammenhang dann ja wirklich mit einem der schlimmsten Verbrechen, die denkbar sind, was geht dann in Ihnen vor?

Speitkamp: Na ja, das ist natürlich eine sehr unangenehme, quasi, Verharmlosung, weil so getan wird, als gäbe es ein höheres Gesetz, dem der Mensch sich unterordnen müsse oder die Familie sich unterordnen müsse und dem alle folgen müssten und für den man auch morden dürfe. Ich will auch nicht den Begriff Ehre jetzt schönreden, überhaupt nicht. Ich will nur sagen, es bezeichnet etwas, was in verschiedenen Kulturen und verschiedenen sozialen Gruppen unter verschiedenen Menschen immer wieder eine Rolle spielt. Und was auch genutzt worden ist, um zum Beispiel Gesetzesbrüche zu legitimieren, indem man sagt, das Gesetz mag das ja verbieten, aber die Ehre gebietet es, was ich zu tun habe. Das können wir natürlich nicht mehr akzeptieren in einem Rechtsstaat!

Pokatzky: Wer verwendet diesen Begriff Ehre denn heute überhaupt noch für sich, ist das nicht auch etwas grundsätzlich Elitäres?

Speitkamp: Na ja, dann würde es nicht so häufig auf den Sportseiten stehen. Da steht es wirklich noch, wenn man den Sport mal genau liest, bis hin zu den Formulierungen, sie kämpften nur noch für die Ehre, dann haben sie verloren! Aber der Begriff wird durchaus noch verwendet, so elitär ist das auch gar nicht. Und Sie finden es eher unter Jugendgruppen noch, die keineswegs sich als elitär verstehen würden oder die sich nicht so definieren würden. Die sehr wohl sagen, die Ehre ist uns wichtig. Es gibt berühmt-berüchtigte Interviews mit Bushido, der sagt, die Ehre sei ein ganz wichtiger Wert für ihn.

Pokatzky: Ja, aber geht denn ... Wenn wir jetzt als Ehre auch mal einen weiteren Begriff einführen können, wenn es um Würde geht, dann ist das ja ... Zu Ehre gehört sicherlich auch Würde, könnten vielleicht andere Menschen sogar als einen anderen Begriff als Ehre verwenden. Dann gibt es ja bestimmte Leute aus der Rapper-Szene, die nun gar nicht so großartig mit der Würde anderer umgehen.

Speitkamp: Nein, das ist richtig, deswegen ist auch Ehre und Würde nicht dasselbe und deswegen hat man sicherlich auch im Grundgesetz so großes Gewicht auf die Würde gelegt ...

Pokatzky: "Die Würde des Menschen ist unantastbar".

Speitkamp: "Die Würde des Menschen ist unantastbar", in der Präambel. Also als naturrechtliches Phänomen, über das der Mensch und auch der Staat nicht verfügen darf, das jedem Menschen mitgegeben ist. Während die Ehre ja quasi erst in Gesellschaft entsteht, durch die Art, wie die anderen mit mir umgehen und wie ich mit ihnen umgehe. Übrigens gibt es Verfassungen, wie die hessische Verfassung, da steht drin, die Ehre und die Würde des Menschen ist geschützt.

Pokatzky: Wie es auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 steht.

Speitkamp: Ja. Und das zielt auf die Entehrung der Menschen in den Diktaturen natürlich, die ja bewusst gedemütigt haben, also Ehre entzogen haben. Die Nationalsozialisten haben ja nicht nur Ehre vergeben durch viele Ehrabzeichen, sondern auch Juden sozusagen nicht nur körperlich misshandelt, sondern auch erst mal entehrt, ...

Pokatzky: Sondern entehrt.

Speitkamp: ... gedemütigt, das war der erste Schritt. Und das ist der erste Schritt zur Gewalt, die systematische Demütigung.

Pokatzky: Sagt der Historiker Winfried Speitkamp von der Universität Kassel, Verfasser des Buches "Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre". Vielen Dank!

Speitkamp: Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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