Sven Regener: "Wiener Straße"

Der Mythos des alten Kreuzbergs ist auserzählt

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Sven Regeners "Wiener Straße" ist eine Reminiszenz an das Kreuzberg der frühen 1980er-Jahre. © Foto: dpa / picture alliance / Wolfgang Steinberg, Cover: Galiani-Verlag
Von Gerrit Bartels · 05.09.2017
Eine Art "Nummernrevue" aus dem Kreuzberg der frühen 80er-Jahre: Das ist Sven Regeners neues Buch "Wiener Straße" für unseren Rezensenten. Mitunter witzig, aber das Buch könne dem Leben im Vor-Wende-Kreuzberg keine neuen Facetten abgewinnen.
Es ist bekannt, dass Sven Regener seine Figuren ziemlich gern hat und immer wieder in seinen Romanen auftauchen lässt. Als seine Herr-Lehmann-Triologie zum Abschluss gekommen war, ließ er 2013 mit "Magical Mystery Tour oder Die Rückkehr des Karl Schmidt" einen Roman folgen, dessen Held, eben jener Karl Schmidt, schon in den Lehmann-Büchern keine ganz kleine Rolle spielt. Immerhin sind darin die achtziger Jahre nun passé, der Schmidt-Roman ist in den Neunzigern angesiedelt, in der hohen Zeit von Rave und Techno (die schön kongeniale Verfilmung mit dem tollen Charly Hübner als Karl Schmidt ist gerade ins Kino gekommen).
Insofern ist es nun keine Überraschung, dass das Figurenensemble des neuen Regener-Romans ein weitgehend bekanntes ist – nur hat sich Regener chronologisch nicht noch näher an die Gegenwart herangepirscht, sondern bewegt sich wieder in sprichwörtlich grauesten Berliner, nein: Kreuzberger Vorzeiten, die frühen achtziger Jahre, mit ihrem "nach Schwefel und Kohl stinkenden Smoghorrorwetter".

Mit der Kettensäge über den Kottbusser Damm

"Wiener Straße" heißt der Roman richtiger- und bezeichnenderweise. Viel größer wird der Radius auch nicht, sieht man einmal vom Beginn ab, an dem der Künstler H.R. Ledigt im Baumarkt am Hermannplatz im Gebäude der Neuen Welt eine Kettensäge ersteht und mit dieser dann den Kottbusser Damm herunter in die Wiener Straße wandert.

Auf der Frankfurter Buchmesse haben wir mit Sven Regener über sein Buch gesprochen:
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Alle haben sie hier wieder ihre Auftritte, Erwin Kächele, Karl Schmidt und Frank Lehmann, auch Marko, den Taxifahrer, meint man zu kennen. Dazu kommen die Hausbesetzer der ArschArt-Galerie, Leute wie P. Immel, der Chef, Kacki, der früher Karsten 1 war, Karsten 2, Karsten 3, Jürgen 1, Jürgen 2 etc, und ein paar Frauen sind auch dabei, nämlich Kächeles Nichte und deren Mutter, die irgendwann nach dem Rechten sieht, aber vorher noch Probleme mit dem DDR-Grenzzöllner wegen ihres abgelaufenen Reisepasses hat (doch, ja, Riesenradius!). Zentraler Schauplatz, neben der ArschArt-Galerie und später dem Kunsthaus Artschlag, in dem eine große Ausstellung lokaler Größen bevorsteht, ist abermals das Café Einfall mitsamt der Wohnung darüber. In die zieht jetzt Frank Lehmann mit ein paar anderen, weil sie bei Kächele rausgeflogen sind. Kächele nämlich wird Vater und muss sich mitsamt schwangerer Freundin auf die neuen Lebensverhältnisse vorbereiten.

Alltagsszenen aus dem Kreuzberg der frühen 80er-Jahre

Was aber erzählt Sven Regener nun für eine Geschichte? Eigentlich keine. Es sind mehr Szenen, die er aneinanderreiht. Wie schon sein letzter Lehmann-Roman "Kleiner Bruder" erinnert "Wiener Straße" an eine Nummernrevue, deren Höhepunkt und eben Ende auf die Artschlag-Vernissage zusteuert. Es geht um eine kaputte Kaffeemaschine im Einfall, wer bei ArschArt das Sagen hat, wie die ArschArt-Jungs von einem Team des ZDF aufgesucht werden, angeführt von einem österreichischen Jungjournalisten, wie Herr Lehmann sich sein Geld mit Putzen im Einfall verdient, dass man es dort nun auch mit selbstgebackenen Kuchen versucht, wie Kächele und Lehmann im Getränkegroßmarkt ("Ick koof bei Lehmann") Wein für die Vernissage verkosten. Solche Dinge. Halt das aufregende Kreuzberger Leben in den frühen achtziger Jahren.

Auf der Frankfurter Buchmesse haben wir Sven Regener um seine Meinung zur Gentrifzierung gebeten:

Natürlich ist das mitunter witzig. Sven Regener ist ein Meister des Dialogs, nicht minder ein Meister des alltäglichen Nebenherschreibens. Und Settings kann er auch bauen: die ArschArt-Jungs mit ihren orangenen Bauarbeiterhelmen und den weißen Overalls (wahlweise auch umgekehrt) auf dem Dach ihres Hauses meint man gestochen scharf vor sich zu sehen, das Einfall mit seiner Theke, seiner Kuchenglasecke und seinen Klos sowieso.

Keine neuen Facetten aus einer auserzählten Welt

Doch diese Zeit, die Zeit lange vor dem Mauerfall, am Ende der Welt, sie scheint inzwischen auserzählt. Regener macht keine Anstalten, ihr noch einmal neue Facetten abzugewinnen. Schon eher entsteht der Eindruck, dass die Kreuzberger 36-Welt, dieses Idyll im Schatten der Mauer, wirklich sehr, sehr klein war, sehr, sehr fern von allem, gerade in bestimmten Subkulturen. Vielleicht ist es das, was Regener mit "Wiener Straße" noch einmal zum Ausdruck bringen wollte. Jetzt müsste es wirklich mal gut sein, zumindest mit diesem Kreuzberg.

Sven Regener: "Wiener Straße"
Galiani-Verlag, Berlin 2017
304 Seiten, 18,99 Euro
Erscheint am 7. September

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