Dystopie und Utopie

"Wir leben in Deutschland die Erfüllung sämtlicher Utopien"

Thomas von Steinaecker
Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker © dpa / picture alliance / Arno Burgi
Thomas von Steinaecker im Gespräch mit André Hatting · 20.12.2016
Im welthistorischen Maßstab scheint das Leben in Deutschland ziemlich nah an der Utopie zu sein, sagt der Schriftsteller Thomas von Steinaecker – "gleichzeitig ist das Gefühl da, dass diese Blase jeden Moment platzen könnte, dass es ganz schnell umschlagen könnte."
André Hatting: 1516 veröffentlichte der englische Staatsmann Thomas Morus sein Werk "Utopia". In philosophischen Dialogen denkt er darüber nach, wie eine bessere Welt aussehen könnte. Das Buch hat das literarische Genre der Sozialutopien begründet und in gewisser Weise die moderne Science-Fiction vorweggenommen. In dieser Tradition steht auch der Roman "Die Verteidigung des Paradieses", der in diesem Jahr erschienen ist. Diese Dystopie, also Anti-Utopie, beschreibt eine postapokalyptische Welt. Deutschland ist zerstört und atomar verseucht, und eine Gruppe von Flüchtlingen hat sich unter einen Schutzschirm bei Berchtesgaden gerettet. Sie will nach Frankreich, denn dort soll es ein Camp für Überlebende geben. Thomas von Steinaecker ist der Autor des Romans – guten Tag nach Augsburg!
Thomas von Steinaecker: Hallo, guten Tag!
Hatting: Utopien und Dystopien, jetzt auch vor dem Hintergrund dessen, was gestern Abend da in Berlin passiert ist. Wofür sind sie heute ein Seismograf?
von Steinaecker: Ich glaube, sie stehen für was sehr Allgemeines. Letztlich sind sie Parabeln im Gewand einer hoffentlich spannenden Geschichte verpackt, und als Parabeln können sie was sehr Menschliches, was sehr Grundsätzliches verhandeln. Das war jedenfalls für mich einer der Reize, warum ich mich für das Genre entschieden habe.
Hatting: Eine dieser grundsätzlichen Fragen, die Sie in diesem Roman stellen – was bleibt, was zählt, wenn alles untergeht. Was ist die Antwort?
von Steinaecker: Das muss man, glaube ich, erfahren. Oder manchmal ist die Frage ja auch spannender als die Antwort. Man könnte die Frage noch erweitern, wenn man sich die Hauptfigur des Romans anschaut. Das ist ja ein 15-Jähriger, der eigentlich in dieser kleinen Gemeinschaft der Überlebenden völlig überflüssig ist, weil da geht es ums nackte Überleben, darum, wie man ein Feld bestellt, darum, wie man Tiere züchtet und sie dann schlachtet. Und er ist ein Träumer, er fantasiert den ganzen Tag, er ist handwerklich sehr unbegabt. Seine einzige Begabung, sein Talent besteht darin, sich Geschichten auszudenken und die aufzuschreiben. Insofern ist hier die grundsätzliche Frage: Hat Kunst nach dem Weltuntergang in Anführungszeichen – es ist ja in dem Roman nur Deutschland untergegangen –, hat Kunst da überhaupt noch eine Funktion? Wie steht der Mensch zur Kunst, warum braucht der Mensch die Kunst? Was ist das für eine Situation, wenn ich eigentlich verhungere oder weiß, dass ich am nächsten Tag sterben werde und mir dann noch Geschichten ausdenke? Ist das nicht etwas eigentlich komplett Absurdes? Oder liegt vielleicht gerade darin der Triumph und das, was den Menschen ausmacht, dass er in völlig ausweglosen Situationen auf so etwas Überflüssiges und Absurdes und Wunderschönes verfällt wie eben eine Geschichte aufzuschreiben, ein Märchen.
Hatting: Ich würde als Interpretation Ihres Romans sagen, ja, genau das ist dann die Stärke der Kunst und der Kultur, so würde ich das lesen. Würden Sie, Herr von Steinaecker, sagen, dass jetzt in unserem Alltag, aktuell, Literatur oder Kunst ganz allgemein eine ähnlich bedeutende Rolle spielen kann, gerade auch im Hinblick auf solche Katastrophen?
von Steinaecker: Schwierige Frage – deshalb schwierig für mich, weil für mich eigentlich nicht mehr die Wirklichkeit und der Bereich der Fiktion und der Kunst so trennbar ist. Jede Berichterstattung, wenn Sie jetzt auf das anspielen, was auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin passiert ist – jede Berichterstattung ist ja schon eine Interpretation und dadurch eine Anreicherung mit gewissen fiktiven Elementen oder Erzählmodellen, die wir einfach brauchen, um Geschichten zu begreifen. Die Vergeschichtlichung der Welt, dass es eben meistens einen Guten gibt, und dann gibt es einen nicht so Guten, und dann gibt es die Opfer. In diesen Modellen stecken wir ja alle drin. Insofern ist die Welt immer schon fiktionalisiert, und ich glaube, was wichtig ist, ist, diese Modelle zu hinterfragen und gewisse Stereotype vielleicht auch in diesen Modellen aufzubrechen oder sichtbar zu machen, dass dem überhaupt so ist, dass es nicht die Wirklichkeit und die Fiktion und die Kunst gibt.
Hatting: Es fällt auf, dass gerade die Dystopie ein Genre ist, dem sich deutschsprachige Autoren zurzeit verstärkt zuwenden. Ist das Ausdruck einer Krisenhaftigkeit unserer Epoche?
von Steinaecker: Ja, das glaube ich, das glaube ich sehr wohl. Ich glaube, es hängt mit zwei Dingen vor allem zusammen, einmal – das ist jetzt eher so literaturwissenschaftlich – haben die Künstler und vor allem die Schriftsteller auch in Deutschland, wo das, glaube ich, ganz besonders gilt, nicht mehr die Berührungsängste, die sie noch vor 20, 30 Jahren hatten, mit popkulturellen Themen. Dazu gehört so was wie Dystopie, was man meistens eher so in Hollywood verankert, was aber jetzt eben auch Eingang in Literatur findet und angenommen wird nicht nur von den Schriftstellern, sondern auch von den Kritikern. Da hat sich, glaube ich, sehr viel getan auch, siehe die Anerkennung von Christian Kracht oder Rainald Goetz.
Das Zweite ist aber, wenn ich jetzt über mich ganz persönlich spreche, dass ich seit eigentlich 2001 das Gefühl habe, in einem Dauerausnahmezustand zu sein. Und das ist das Merkwürdige, dass wir in Deutschland eigentlich in einer Blase der vollkommenen Glückseligkeit leben. Man könnte eigentlich, wenn man sich die deutsche Geschichte anschaut, oder vielleicht sogar die Weltgeschichte, könnte man meinen, dass wir in Deutschland gerade eigentlich die Erfüllung sämtlicher Utopien leben.
Uns geht es so gut wie noch nie, unsere Ängste sind im Vergleich mit den Ängsten, die andere Menschen in anderen Ländern haben, eigentlich absurd – im Prinzip ist das die Erfüllung der Utopie, und gleichzeitig ist, glaube ich, das Gefühl da, dass diese Blase jeden Moment platzen könnte – siehe gestern –, dass es ganz schnell umschlagen könnte. Und die Erfüllung jeder Utopie beinhaltet, glaube ich, auch eine Dystopie, siehe "Schöne neue Welt". Wenn die Utopie dann in Erfüllung geht, ist sie plötzlich gar nicht mehr so schön, sprich, die materielle Erfüllung, die wir haben, geht einher, glaube ich, mit einer völligen geistigen Orientierungslosigkeit. Und da kommt die Dystopie dann zum Zug, die sich eben diese grundsätzlichen Fragen stellt und sagt, was passiert eigentlich, wenn wir materiell völlig arm sind? Wenn das alles weggenommen wird, was bleibt dann von uns übrig? Wie überleben wir, was ist uns dann noch wichtig.
Hatting: In unserer Utopie-Serie habe ich mit dem Autor Thomas von Steinaecker gesprochen. Sein aktueller Roman "Die Verteidigung des Paradieses" ist in diesem Jahr bei S. Fischer erschienen. Vielen Dank, Thomas von Steinaecker!
von Steinaecker: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
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