DVD-Box

Zehn kleine dramaturgische Meisterwerke

Der polnische Regisseur Krzystof Kieslowski raucht eine Zigarette, er ist grauhaarig und schaut nachdenklich
Der polnische Regisseur Krzystof Kieslowski © Imago / teutopress
Von Bernd Sobolla · 07.12.2014
Der verstorbene polnische Regisseur Krysztof Kieslowski hat vor rund 30 Jahren biblische Filme in Polen gedreht – in der Zeit des Kriegsrechts. Nach jahrelangen Lizenzstreitigkeiten ist die "Dekalog-Box" über die Bedeutung der "Zehn Gebote" neu erschienen.
Eine Hochhaussiedlung irgendwo in Warschau. Graue Fassaden, Menschen, deren Lebenswege sich gelegentlich kreuzen oder dicht aneinander vorbeilaufen. Hinter jedem Gesicht steckt eine andere Lebensgeschichte. Und alle sind irgendwie mit den Zehn Geboten verbunden. Wenn auch erst auf den zweiten Blick. Da ist z.B. der Professor, der seinem Sohn beibringt, alles im Leben zu berechnen. Für dessen Fragen nach Leben und Tod hat er nur wenig Verständnis.
Dekalog: "Das Herz hört auf, das Blut weiter zu pumpen. Das Gehirn wird nicht mehr durchblutet. Und alles bleibt stehen, ist zu Ende. / Und was bleibt dann? / Es bleibt das, was jemand eben gemacht hat. / Sieh mal, hier steht: Eine Messe, eine Messe für ihren Seelenfrieden. Die Seele hast du überhaupt nicht erwähnt."
Protagonisten an der Schwelle zwischen Leben und Tod
In "Dekalog 1 - Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben", zeigt der bekennende Agnostiker Kieslowski einen Mann, der nur an das wissenschaftlich Berechenbare glaubt. Der aber mit diesem Konzept scheitert. Denn er berechnet, dass die Eisschicht auf dem See stark genug sei, selbst dickste Menschen zu tragen. Sein kleiner Sohn aber bricht ein und stirbt. Mehrmals führt Kieslowski seine Protagonisten an die Schwelle zwischen Tod und Leben. So auch in "Dekalog 2 - Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen". In diesem Film hängt für eine Frau, deren Ehemann schwer erkrankt ist und die von einem anderen Mann schwanger ist, alles von der ärztlichen Diagnose ab. Denn mit ihrem Mann kann sie keine Kinder haben.
Dekalog: "Alles etwas sehr spät: Diagnose, Behandlung, Operation. / Und was heißt das? / Nicht gut. / Wird er leben? / Weiß nicht. / Ich muss das wissen. Und Sie müssen unbedingt... / Nein, das Einzige, was ich muss, das ist, ihren Mann so gut wie möglich zu behandeln. Ich weiß nur, dass ich es einfach nicht weiß."
Jede Episode für sich ist ein kleines dramaturgisches Meisterwerk. Denn Krzysztof Kieslowski und sein Co-Autor Krzysztof Piesiewicz lassen die Protagonisten damit hadern, in ihrer jeweiligen Lebenssituation die richtigen Entscheidungen zu erkennen bzw. umzusetzen. Besonders beeindruckend ist hierbei "Dekalog 4 – Du sollst Vater und Mutter ehren". Darin lebt die etwa 20-jährige Anka mit ihrem Vater zusammen. Die Mutter starb bei ihrer Geburt, hinterließ aber einen Brief an die Tochter, den Anka eher zufällig findet. Aus diesem geht hervor, dass Michal, ihr Vater, nicht ihr leiblicher Vater ist. Die große innige Liebe, die zuvor die beiden immer verband, scheint sich zu ändern.
Dekalog: "Seit wann hast du es gewusst? / Ich habe es bisher immer nur vermutet. Ganz sicher war ich mir nie. / Wieso hast du mich belogen? / Das alles hatte für mich nie Bedeutung. Du warst für mich immer meine Tochter. / Du hättest es mir unbedingt sagen sollen."
Kieslowski will machtlose Menschen zeigen
Als "Dekalog" gedreht wurde, galt in Polen das Kriegsrecht, und laut Kieslowski wusste niemand genau, was schlecht und was gut ist oder wozu man überhaupt lebt. So entschlossen sich die Autoren, zu den elementarsten Prinzipien zurückzukehren und zu fragen, wie man das eigene Leben führen soll. Allerdings wollte der Regisseur mit seiner Interpretation der Zehn Gebote weder religiösen Trost spenden, noch glaubte er daran, eine demoralisierte Gesellschaft aufzurichten können, wie er im Bonusmaterial der DVD-Box betont.
Krzysztof Kieslowski: "Ich filme Menschen in Spielfilmen und in Dokumentarfilmen. Menschen, die nicht klar kommen, die flüchten, ohne zu wissen, wohin oder wovor sie flüchten. Diese Menschen sind einfach machtlos. Sie sind dem, was ihnen passiert, hoffnungslos ausgeliefert. Und das sind wir: Niemand von uns wird mit der Realität fertig."
Kieslowski verstand Dekalog als Filmzyklus, als ein Gesamtkunstwerk, das sich erst im Zusammenhang der einzelnen Episoden wirklich erschließt. Jene handeln von Erfüllung und Verlust zwischenmenschlicher Beziehungen, von Sinnsuche und Selbstzerstörung, von Solidarität und Desinteresse, und sie spielen alle in derselben Hochhaussiedlung. Die Protagonisten sind Nachbarn, die sich im Fahrstuhl begegnen oder an der Tür um etwas Zucker bitten. Und immer wieder tauchen stille Beobachter auf, die ebenfalls die Geschichten miteinander verbinden: Mal ist es ein Landvermesser, mal ein Sanitäter mal ein Obdachloser. So schwingt etwas Unergründliches aber auch Verbindendes in den Filmen, das zur Reflektion anregt. International wurde der Regisseur dafür gefeiert, Zuschauer, Kirche und Kritiker in Polen hielten sich mit Applaus zurück: weil seine Filme zu ernst waren, er sich von der Kirche distanziert hatte und sich einer künstlerischen Einordnung widersetzte.
Krzysztof Kieslowski: "Ich glaube an gar nichts. Auch nicht daran, dass dieser Filmzyklus eine mobilisierende Kraft in sich trägt. Aber ich glaube, dass sich die Leute in diesem Kontext darüber Gedanken machen könnten."
Gelungene Satire auf Habgier und Neid
Dass Kieslowski auch unterhaltsam-komisch sein konnte, bewies er in "Dekalog 10 – Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut". Darin entdecken zwei Brüder nach dem Tode ihres Vaters dessen Briefmarkensammlung, die sie einem Experten zeigen.
Dekalog: "Für die hier bekämen Sie einen Kleinwagen. ... Für die beiden einen Diesel. ... Und für den Satz hier könnten Sie sich eine Wohnung kaufen."
Sollen sie die Sammlung verkaufen oder besser noch vervollständigen? Denn eine entscheidende Marke könnte sie noch viel wertvoller machen. Dafür jedoch muss einer von ihnen seine Niere opfern. Eine gelungene Satire auf Habgier und Neid und der geniale Abschluss eines riesigen Kammerspiels. Ein großartiges Werk.

Tipp: Die DVD-Box "Dekalog" erscheint bei "Absolut Medien". Sie umfasst alle zehn Filme und beinhaltet erstmals wieder das zweistündige Bonusmaterial mit einem Dokumentarfilm über das Leben Krystof Kieslowski bzw. einer TV-Debatte mit dem Regisseur. Die komplette Box besteht aus sechs DVDs und kostet 69,90 Euro.

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