Durchhaltewillen zahlt sich aus

Von Peter Kujath · 22.09.2011
Die Ureinwohner Taiwans machen etwa zwei Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Seit Jahren versucht die Regierung sie zu bewegen, aus der schwer zugänglichen Bergregion an die Küste zu ziehen. Doch selbst gewaltige Naturkatastrophen konnten die Menschen nicht veranlassen, ihre Heimat zu verlassen.
Ado Kaliting ist derzeit sehr erfolgreich in Taiwan. Ihre Musik ist eine Mischung aus dem typischen Retorten-Pop in Japan, Korea oder eben Taiwan - und Einflüssen ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Ado Kaliting ist eine Ami - mit 178.000 Mitgliedern die größte der 14 anerkannten, indigenen Volksgruppen auf Taiwan. Einige ihrer Lieder singt sie in der Sprache ihrer Vorfahren, auch wenn diese nur mehr von einigen Tausend Menschen verstanden wird.

Taiwan ist ein merkwürdiges Gebilde. Die Amtssprache ist hochchinesisch, die Mehrheit spricht aber taiwanesisch - einen chinesischen Dialekt. Die kleine Insel vor der Küste Chinas, etwa auf der Höhe von Shanghai gelegen, unterhält derzeit mit 23 Staaten diplomatische Beziehungen. Alle größeren Staaten dieser Welt haben lediglich Kultur- und Wirtschaftsbüros in Taipeh, der Hauptstadt der Republik China auf Taiwan - wie der offizielle Name lautet.

"Als Präsident der Republik China will ich noch einmal deutlich erklären, dass ich die Souveränität und Würde Taiwans auf jeden Fall schützen werde. Das gilt für jegliche Verhandlungen mit dem Festland-China."

2008 ist Ma Ying-jeou in freien, demokratischen Wahlen zum Präsidenten der Republik China auf Taiwan gewählt worden. Seine Partei, die Kuomintang, musste am Ende des Bürgerkriegs 1949 das chinesische Festland verlassen und suchte Zuflucht auf der Insel. Trotz einiger Versuche gelang es den Kommunisten unter Mao Zedong nicht, diese zu erobern.

Die USA sind bis heute die Schutzmacht von Taiwan, auch wenn sie 1979 ihre diplomatische Vertretung nach Peking verlagert und damit die Volksrepublik China als Nachfolgestaat des einstigen chinesischen Reiches akzeptiert haben. Die kommunistischen Herrscher in Peking halten Taiwan für einen integralen Bestandteil ihres Staatsgebietes und fordern eine Rückkehr der Insel unter chinesische Verwaltung.

Bis zum 15. Jahrhundert war die Insel nur von indigenen Volksgruppen des australisch-pazifischen Raums bewohnt. Menschliche Spuren reichen nach jüngsten Ausgrabungen 15.000 Jahre zurück. Einige Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass die Besiedelung des Pazifischen Raums von Taiwan aus ihren Anfang genommen haben könnte.

1583 erreichten die Portugiesen die Insel und nannten sie Formosa. Später nutzten die Holländer und Spanier sie als Stützpunkt und holten Chinesen vom Festland als Bauern hierher. Diese Bevölkerungsgruppe bezeichnet sich heute meist als Taiwanesen und ist eher für die Unabhängigkeit. 1949 kam mit der geschlagenen Armee der Kuomintang die 2. Welle Festlandschinesen nach Taiwan.

Ureinwohnerin Savi: "Ich bin ganz klar eine Ureinwohnerin. Zwischen uns und den Chinesen gibt es große Unterschiede in der Denkweise, aber auch im Aussehen."

Die Frage nach der Identität der Menschen auf Taiwan ist schwierig. 70 Prozent der Bevölkerung sind Chinesen, sogenannte Hoklo, die ursprünglich aus dem südlichen Teil der Provinz Fujian stammen, 15 Prozent gehören zur Gruppe der Hakka, die ihre Herkunft auf die zentralasiatischen Hunnen zurückführen. Circa zehn Prozent der Bevölkerung sind Festlandschinesen, die mit den Truppen der Kuomintang nach Taiwan kamen. Und dann gibt es noch 14 indigene Volksgruppen, die heute aber nur mehr zwei Prozent der rund 23 Millionen Menschen auf Taiwan ausmachen.

"Die Idee, unsere Ureinwohner in eigene Volksgruppen einzuteilen, stammt aus der Periode der japanischen Besatzung. Mit den Soldaten kamen auch japanische Anthropologen nach Taiwan, die die Ureinwohner studiert haben. Sie waren es, die angefangen haben, die Menschen nach ihrer Sprache, der Religion und ihrer kulturellen Organisationsformen einzuteilen. Vor der japanischen Zeit gab es diese Unterteilung in Gruppen nicht.

Nach dem Abzug der Japaner wurde vieles wieder vergessen, bis die Ureinwohner selbst angefangen haben, ihre Unterschiede herauszustreichen. Deshalb sind mittlerweile 14 Gruppen als indigene Völker anerkannt. Aber es gibt noch immer eine Reihe von Untergruppen, die ebenfalls nach Anerkennung streben. Wir, als Rat der Indigenen Völker auf Taiwan, müssen uns deshalb damit auseinandersetzen, welcher Gruppe dieser Status zusteht."

Sun Ta-Chuan ist innerhalb der Regierung von Ma Ying-jeou für die indigenen Völker zuständig. Der 62-Jährige gehört zur Volksgruppe der Puyuma. Die ist mit nur noch 1000 "Muttersprachlern" einer der kleineren Stämme auf Taiwan. Der Rat der indigenen Völker residiert in Taipeh, der Hauptstadt Taiwans, in einem neu gebauten Haus, das auch Platz für Ausstellungen und Vortragsreihen bietet. Sun Ta-Chuan oder mit seinem Puyumaischen Namen, Paelabang danapan, will aber verhindern, dass die Ureinwohner lediglich zu einer folkloristischen Dreingabe werden.

"Wahrscheinlich ist die industrielle Entwicklung nicht der richtige Weg für uns. Es geht um eine vernünftige Alternative. Die sollte im kreativ-künstlerischen Bereich sein. Die indigenen Völker sind ja bereits in den Bereichen Musik und Film führend. Früher ging es vor allem darum, die Ureinwohner in die normale Industrie einzugliedern. Aber das hat nicht geklappt. Ich glaube, das ist einfach nicht das Richtige für uns, nach kapitalistischen Kriterien zu wirtschaften.

Für die Gemeinschaften der indigenen Völker auf Taiwan ist es typisch, dass Geld kaum eine Rolle spielt. In der Regel finden Tauschgeschäfte statt. Schön wäre es, wenn die Ureinwohner die brachliegenden Flächen zum Anbau nur für ihren eigenen Bedarf, aber nicht für den kommerziellen Verkauf nutzen dürften. Landschaftspflege und ökologische Landwirtschaft - da sehe ich Zukunftschancen."

Sun Ta-Chuan ist eigentlich Philosophieprofessor. Aber er hat sich mit der Förderung der Literatur der Ureinwohner einen Namen gemacht und eine eigene Zeitschrift herausgegeben. Bei einem schweren Erdbeben 1999 in Zentral-Taiwan, wo vor allem die Ureinwohner leben, starben mehr als 2000 Menschen. Damals wurde Sun Ta-Chuan von der Regierung als Verantwortlicher für den Wiederaufbau eingesetzt. Danach ging es zurück an die Universität, ehe er 2009 wieder wegen einer Katastrophe Mitglied der Regierung wurde.

Savi: "Hier stand einst ein Dorf. Das weiße Haus, das man da hinten sieht, das war der höchste Punkt und ist jetzt das einzige Gebäude, das von Shiaoling übrig geblieben ist. Alles andere ist unter den Schlammmassen vergraben."

Savi ist 25 Jahre alt und gehört zum Stamm der Bunun. Als der Taifun Morakot im August 2009 wütete, hatte sie gerade ihr Studium beendet und war zu Hause in Namashia. Shiaoling und Namashia liegen nicht weit voneinander entfernt am Ende einer Stichstraße, die vom Süden aus tief in die Berge in Zentral-Taiwan hineinführt. Die Hänge hier sind extrem steil, dicht bewaldet und weitgehend unberührt.

Der Taifun setzte ungeheure Wassermassen frei, die wiederum das Erdreich an den Hängen zum Rutschen brachten. Am Ende waren mehrere Dörfer verschüttet. Über 700 Menschen kamen ums Leben. Allein 400 wurden unter den Stein- und Geröllmassen in Shiaoling begraben.

Pan ist einer der älteren Brüder von Savi. Die Familie besteht aus den Eltern, zehn Kindern und über 20 Enkelkindern - eine typische Großfamilie der Bunun. Ihr Dorf, Namashia, ist wie durch ein Wunder weitgehend verschont geblieben.

Mit einem kleinen, Vierrad getriebenen Pick-up ist Pan mit uns weiter hinein in die Berge gefahren. Auch zwei Jahre danach sind die Muren-Abgänge noch deutlich zu sehen. Die Schotterpiste ist extrem steil und außer den Bunun und den Tsou, den beiden hier lebenden indigenen Volksgruppen, kommt kaum einer vorbei.

"Die Regierung und viele Menschen an der Küste sagen, dass wir Ureinwohner selber schuld sind. Das liege daran, dass wir hier unerlaubt Landwirtschaft betreiben würden. Aber wenn man sich genau anschaut, wo die Schlammlawinen heruntergekommen sind, dann sind das eben nicht die Stellen, wo wir etwas angebaut haben. Keines unserer Felder ist abgerutscht."
Die Bunun gehören mit rund 50.000 Mitgliedern zu den größeren indigenen Volksgruppen auf Taiwan. Die Tsou weisen nur mehr rund 6000 Mitglieder auf, die sich wiederum in einen nördlichen und einen südlichen Stamm unterteilen. Beide Volksgruppen leben als Jäger und Gelegenheitsfarmer in den Bergen zwischen 1000 und 2500 Meter Höhe.

Es ist bereits Abend in Namashia. Wieder einmal prasselt der Regen auf die Straße des kleinen Dorfes. Die Häuser haben alle eine große Veranda, auf der sich die Familienmitglieder versammeln und oft etwas im Feuer grillen. Die Regierung hätte gerne, dass die Menschen aus den Bergen näher an die Zivilisation ziehen. Deshalb dauerte es, ehe die Versorgung der Menschen nach dem Erdrutsch in Gang kam.

"Was bis zum 22. August per Hubschrauber an Nahrung zu uns gebracht wurde, das hat eigentlich nicht gereicht. Deshalb haben viele Menschen daran gezweifelt, ob es richtig ist, hier zu bleiben. Für mich war aber klar, dass ich als letzter gehen würde. Erst als Präsident Ma Ying-jeou das Katastrophengebiet besuchte, wurde die Hilfe für uns deutlich erhöht."'"

Kung Shiao-Ping ist der für vier Jahre gewählte Vorsteher des Bezirks, in dem auch Namashia und Shiaoling liegen. Er ist ein energischer Mann Mitte 50 und gehört zum Stamm der Tsou. Ihm ist es zu verdanken, dass die Dörfer hier weiter bestehen.

""Die Straße zu uns ist erst am 1. Dezember, also vier Monate nach der Katastrophe notdürftig wiederhergestellt worden. Wahrscheinlich hätte man sie nie gebaut, wenn wir nicht direkt beim Straßenbauamt gewesen wären und ordentlich Krach gemacht hätten. Wir haben denen deutlich gesagt, dass wir endlich wieder an die Außenwelt angeschlossen werden wollen. Ich bin dann mit den Vermessungsleuten die ganze Strecke abgelaufen, damit sie auch wirklich anfangen. Danach kamen dann mehr und mehr Menschen zurück ins Dorf."

Rund 1700 Menschen leben mittlerweile wieder in den vier Dörfern des Bezirks. Die Häuser entsprechen nicht mehr der traditionellen Bauweise aus Holz, Bambus und Schilf. Auch hier hat Beton Einzug gehalten. Aber jedes Haus hat einen kleinen Garten. Es laufen Hühner und eine Menge Hunde auf der Straße herum.

"Die Behörden haben in der Ebene das Dorf Daie errichtet und das Ziel war es natürlich, uns hier oben zum Aufgeben zu zwingen. Wir sollten weggehen. Deshalb haben sie sich zuerst auch nicht aufgerafft, eine Straße zu bauen, weil sie wussten, dass es ohne eine ordentliche Straße nicht geht. Aber wir hatten keinen Grund wegzugehen, auch wenn das Gemeindezentrum beschädigt worden war. Unsere Häuser stehen ja noch und wir haben hier unser Auskommen.

Was sollen wir machen, wenn wir in Daie sind. Dann müsste die Regierung uns schon eine monatliche Rente zahlen. Aber auch dann hätten die Leute irgendwann sicher gesagt, dass sie wieder zurück wollen, weil hier unsere Wurzeln sind. Deshalb war die Straße das alles Entscheidende. Wann immer irgendwo ein Treffen war, bin ich aufgetaucht und habe unseren Standpunkt vertreten."

So hat es der Bezirksvorsteher Kung Shiao-Ping geschafft, seine vier Dörfer wieder an die Außenwelt anzubinden. Und das bietet den Ureinwohnern auch die Chance auf einen Arbeitsplatz.

Savid ältester Bruder: "Ich habe schon früher als Lastwagen-Fahrer gearbeitet. Aber als die Katastrophe über uns hereinbrach, war ich schon zwei Jahre lang arbeitslos. Damals gab es ja weltweit die Wirtschaftskrise und damit auch hier in Taiwan. Ich habe durch das Wiederaufbau-Projekt endlich Arbeit gefunden."
Die wirtschaftliche Situation der Familie hat sich dadurch deutlich verbessert, auch wenn Savis ältester Bruder, Ban, nicht sagen würde, dass es ihnen gut geht. Aber jedes der Geschwister hilft mit und insgesamt braucht die Familie nicht viel.

Zwei seiner Kinder studieren noch, zwei arbeiten bereits als Lehrer. Für die Kinder der indigenen Volksgruppen gibt es eine Reihe von Zuschüssen von der Zentralregierung - zum Beispiel wenn sie weiterbildende Schulen besuchen oder auf die Universität gehen wollen. Dafür müssen sie allerdings in die größeren Städte an der Küste. So etwas ist für Ban undenkbar. Für ihn war es keine Frage, dass er trotz der Katastrophe in Namashia bleiben will.

"Ich habe noch nie daran gedacht wegzugehen. Das ist vielleicht der ganz große Unterschied zwischen den Ureinwohner und den Chinesen hier in Taiwan. Die Chinesen kaufen ein Stück Land und wollen damit später Geld machen. Man hofft auf einen Wertzuwachs und verkauft es dann. Wir haben auf dem Stück Land unsere Wurzeln und unser Auskommen. Wir sind mit dem Boden verhaftet. Von dort beziehen wir unsere Lebenskraft. Das gibt man nicht so einfach auf."

Die 25-jährige Savi hat es geschafft, in beiden Welten zu Hause zu sein. Sie hat die Universität abgeschlossen, aber den Bezug zu ihrem Heimatdorf, zu ihrer Familie nicht verloren. Für sie ist die Frage der Identität trotz dem Leben in zwei Welten keine Frage.

"Es ist eine Frage des gesunden Selbstbewusstseins, ob man diskriminiert wird. Ich habe mich seit meiner Schulzeit unten in der Stadt als Ureinwohnerin empfunden und ich bin stolz darauf. Wenn man offensiv damit umgeht und zu dem steht, was man ist, dann wagen es die anderen auch nicht, einen zu diskriminieren. Oder anders ausgedrückt: Du kommst nicht auf die Idee, etwas als Diskriminierung aufzufassen. Nur dann, wenn du selbst das Gefühl hast, du bist den anderen unterlegen, nutzen die Menschen deine Schwäche aus. Ich habe bisher keine Probleme gehabt."

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