Dunkles Zukunftsszenario

25.09.2009
"Das Hören dieser CD in einem Kraftfahrzeug, in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf öffentlichen Plätzen ist wegen der entstehenden Gefahren strengstens untersagt. Ebenso verboten ist das Herumlaufen im Raum, Aufsuchen von Toiletten und Nasszellen. … Schalten Sie ihr Mobiltelefon aus, aber lassen sie das Gerät eingeschaltet, damit der Verfassungsschutz weiß, wo sie sind. Alles, was hier geschieht, geschieht zu ihrem Besten."
Was wie heitere Satire klingt, ist in Wirklichkeit Themen-Intro zu einer düsteren Parabel über Anpassung und Widerstand. Juli Zeh beschreibt in "Corpus delicti" eine Gesundheitsdiktatur im Jahr 2057. Wälder überwuchern die Städte, Fabriken und Autobahnen sind stillgelegt. Uniforme Würfelhäuschen tragen Solarzellen in Millionenzahl.

Gesundheit ist in dieser Gesellschaft der größte Fetisch, "hygienische Prophylaxe" erste Bürgerpflicht. Moritz Holl – ein 27-jähriger Träumer - passt hier nicht rein. Er ist romantisch, etwas versponnen - und sucht in regelmäßigen "blind dates" mit jungen Frauen die Reste von Liebe, in einer ansonsten völlig durchreglementierten Welt.

"Liebe war Natur. Freiheit, Veränderung. Fische fangen, Unruhe stiften, anders sein, noch mehr Unruhe stiften. Das alles hieß bei mir Liebe."

Eines Tages wird Moritz an der Seite einer toten Frau angetroffen – seine DNA entlarvt ihn als Vergewaltiger und Mörder. Moritz beteuert seine Unschuld – aber nur seine Schwester Mia glaubt ihm.

"Bei jeder Gelegenheit wiederholte er einen Satz, der mir ins Ohr ging wie die Melodie eines Schlagertitels ... Ihr opfert mich …"

Mia geht für ihren Bruder in den Kampf gegen das System – sie gibt ihre naturwissenschaftlichen Überzeugungen und zweifelt die Prinzipien dieser Gesellschaft an – auch wenn sie deshalb vor Gericht gestellt und verurteilt wird.

Akustische Effekte, Verfremdung, Echo, Wiederholungen, sphärischer Sprechgesang - machen die Hörbuchfassung dieses dunklen Zukunftsszenarios sehr plastisch. Es sind schräge, oft irritierende Geräusche, zu denen auch Folterszenen gehören. Dazu im Kontrast steht der salopp, quasi "jugendlich" rezitierte Text - von der Autorin selbst und Sprechern, die dies wohl ebenfalls nicht hauptberuflich sind, dafür aber realitätsnah und authentisch klingen. Und dann spielen nicht zuletzt die Popsongs der Band "Slut" eine Hauptrolle.

"Slut" haben sich hier nicht zum ersten Mal mit literarischem Stoff beschäftigt. Vor drei Jahren gab Brechts Dreigroschenoper den Ingolstädter Musikern das Thema vor, jetzt haben sie für Juli Zehs "Schallnovelle" facettenreiche Instrumentalstücke und eingängige Songs geschrieben, die für schöne Wechsel in Tempo und Atmosphäre sorgen: Thematisch geht es hier um Rebellion und individuelle Freiheit genau so wie um die Liebe. "Corpus delicti" ist ein tragischer Thriller, in dem sich Moritz das Leben nimmt und Mia das Geheimnis der fremden DNA lüftet. Aber es ist außerdem eine philosophisch aufgeladene, zarte Geschichte über die Nähe zwischen Geschwistern.

"Das Gute an einer Schwester, hast Du einmal zu mir gesagt, ist dass man an eine Schwester nicht glauben muss. Das unterscheide mich, deine Schwester, von Gott - von dir selbst und von allem, was du denkst oder tust."

Besprochen von Olga Hochweis

Juli Zeh & Slut: Corpus Delicti - Eine Schallnovelle
Strange Ways Records 2009