Düsteres Zeitkolorit

Vorgestellt von Wolfgang Schneider · 01.06.2005
Willem Frederik Hermans gehört zu den erfolgreichsten und umstrittensten Autoren der Niederlande. Sein Frühwerk "Die Tränen der Akazien" aus dem Jahr 1949 ist jetzt auf Deutsch erschienen und gibt ein düsteres Stimmungsbild der letzten Kriegstage in Amsterdam wider.
Obwohl er zu den erfolgreichsten und zugleich meistumstrittenen niederländischen Autoren seiner Generation gehörte, blieb der 1921 geborene Willem Frederik Hermans, der vor zehn Jahren starb, hierzulande lange ein Unbekannter. Bis vor einigen Jahren sein Meisterwerk "Die Dunkelkammer des Damokles" übersetzt wurde. Mit diesem Roman aus dem Jahr 1958 – ein ebenso hoch spannender wie mysteriöser Thriller – gelang dem Autor Ende der fünfziger Jahre der Durchbruch in die Weltliteratur. Nun jubelten auch deutsche Kritiker.

Im letzten Jahr war von Hermans auf Deutsch das Spätwerk "Au pair" zu lesen. Ein etwas verplappertes, überkonstruiertes Buch um eine naive Blondine in Paris; eine Enttäuschung. Nun ist der erste große Roman des Niederländers aus dem Jahr 1949 erschienen.

"Die Tränen der Akazien" spielt im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs in den besetzten Niederlanden. Beeindruckend ist das düstere Zeitkolorit. Durch Amsterdam fahren Autos mit Holzgasgenerator, die Fenster der Häuser sind mit schwarzem Papier verdunkelt, es herrscht abendliche Ausgangssperre. Von überallher tönen Axthiebe. Denn die Menschen zerlegen im letzten Kriegswinter alles, was aus Holz ist und verheizt werden kann, ob Möbel, Türen oder die Schwellen der Straßenbahnschienen.

Die Häuser des entvölkerten Judenviertels sind mit Stacheldraht versperrt. Am Himmel dröhnen die Flugzeuge, die allnächtlich mit ihrer Bombenlast Richtung Deutschland fliegen. Kaum noch jemand zweifelt daran, dass die Deutschen den Krieg verlieren werden.

Der zwanzigjährige Student Arthur Muttah ist eine vom Krieg entwurzelte Existenz. Genau genommen hat er jedoch nie Wurzeln gehabt. Unehelicher Sohn eines Brüsseler Aristokraten, ist er in Amsterdam mit seiner hassgeliebten Halbschwester Carola bei der Großmutter aufgewachsen, einer unheimlichen Alten, die als "Wahrsagerin" in den verängstigten Zeiten viel Zulauf hat. Schon diese Familienverhältnisse sind im Kleinen das, was die Welt für Hermans im Großen ist: ein "sadistisches Universum".

Man war von der Literatur über die Zeit des Nationalsozialismus lange gewohnt, dass sie Helden und Verräter, Opfer und Täter deutlich unterschied. Hermans bricht solche Konventionen bereits 1949 auf. Arthur Muttah tötet einen Deutschen. Allerdings ist es kein Akt des heroischen Widerstands, denn er begeht die Tat ein paar Stunden nach der Befreiung, im moralischen Grenzgebiet "zwischen bestraft werden und ungestraft davonkommen". Und dann auch eher aus Versehen und einer ziellos explodierenden Lebensaggression. Man fühlt sich an Camus’ "Fremden" erinnert – wie überhaupt ein existentialistischer Zug die Werke von Willem Frederik Hermans prägt.

Die Unverständlichkeit der Welt ist ein großes Thema dieses Autors. Ist Arthurs väterlicher Freund Oskar Ossegal ein kühner Patriot, ein feiger Opportunist oder gar ein Kollaborateur? Prostituiert sich seine Halbschwester für die Deutschen, oder ist sie eine Heldin des Widerstands? Ist ihr deutscher Geliebter, ein SS-Mann, Deserteur oder Spion? Die Geschehnisse lassen verschiedene Deutungen zu, und die Unterdrücker geben ebenso klägliche Figuren ab wie die Unterdrückten. Die ernüchternde Schilderung des Widerstands stieß seinerzeit auf wenig Gegenliebe. Die Zeitung, die den Vorabdruck des Romans besorgte, überstand den Käuferboykott nicht.

Am allgemeinen Jubel über die Befreiung nimmt der Misanthrop Arthur nicht teil.

"Auf allem Klavieren in der Nachbarschaft wurde bis spät in die Nacht die Nationalhymne gespielt, und das brachte ihn fast zur Verzweiflung."

Wenn endlich "das passierte, was man seit langem erhofft hatte, war es so ohne Saft und Kraft, dass man nicht verstehen konnte, auch nur einen Augenblick davon geträumt zu haben."

In der Furcht, als Mörder entlarvt zu werden, setzt Arthur sich ab nach Belgien. Eindrucksvoll wird sein Weg durch Landschaften und Städte beschrieben, die der Krieg gezeichnet hat. Er kommt bei seinem Vater unter; etwas überraschend entwickelt sich das Buch nun zum Familiendrama, während die bisherige zweite Hauptfigur Oskar Ossegal aus dem Blick gerät.

Auch in Brüssel kommt Arthur nicht auf die Beine. So beschließt er, sich als Freiwilliger auf amerikanischer Seite für den Pazifikkrieg zu melden. Aber so einfach ist auch das nicht, und als endlich alle behördlichen Hindernisse überwunden sind, macht ihm schließlich die Atombombe einen Strich durch die Rechnung: Der Krieg ist schon vorbei. In einer blutig-halluzinatorischen Bordell-Szene endet das Buch.

Die Rätselhaftigkeit der Welt ist ein faszinierendes Thema, aber als Leser weiß man gerne, woran man ist. Stattdessen sieht man sich im ersten Drittel des Romans selbst in den desorientierten Status einer Hermans-Figur versetzt und vielen Ungewissheiten ausgeliefert. Es dauert lange, bis das Buch in Fahrt kommt und der Leser in den Bann der beklemmenden Welt gezogen wird.

Hermans plädierte für einen Roman, in dem alles zielgerichtet ist und kein Detail zusammenhanglos bleibt, für einen Roman, "in dem kein Spatz vom Dach fällt, ohne dass es Folgen hat", wie es sein in den Niederlanden berühmtes "Spatzentheorem" formuliert. An einer Romanfigur dürfe demnach nur das zählen, was für die Handlung entscheidend sei. Psychologische Komplexität interessiert Hermans nicht – deshalb vertragen seine Romane aber auch keine Weitschweifigkeiten. Leider sind sie neben kompositorischen Unausgewogenheiten und einer Reihe ungeschickter Metaphern in diesem Frühwerk nicht zu übersehen.

In "Die Dunkelkammer des Damokles" hat Hermans die Doppelsinnigkeit zur sinnverwirrenden Perfektion getrieben. Die "Tränen der Akazien" liest sich über weite Strecken wie eine sehr beachtliche Vorübung für das Meisterwerk. Der ungewöhnliche Blick auf die Wirren und Verstörungen des Jahres 1945 besitzt darüber hinaus gerade in diesen Wochen, in denen des Kriegsendes vor sechzig Jahren gedacht wird, Aktualität.


Willem Frederik Hermans: Die Tränen der Akazien
Roman. Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
Gustav Kiepenheuer Verlag, Berlin 2005,
518 S., geb., 24,90 Euro