Dünne Gestalten als Risse im Raum

Von Volkhard App · 18.11.2010
Schon der erste Eindruck ist überwältigend: In einem hell ausgeleuchteten, kantenlosen Raum ist eine winzige Bronzefigur Giacomettis aufgestellt, eine Art Streichholz auf kleinem Sockel - und doch definiert diese Miniatur von 1940/41 den ganzen Raum, lädt ihn auf und zieht aus ihm die Energie.
Bald sollten seine Skulpturen beträchtlich wachsen. Durch die dünnen, meterhohen Gestalten, diese "Risse im Raum", wurde er berühmt. Und man weiß manchmal nicht, ob diese Figuren besonders verletzlich sind - oder in besonderer Weise überlebensfähig. Nicht nur Existentialisten haben sich mit Giacomettis Bild vom Menschen immer wieder befasst. Markus Brüderlin, Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg:

"Es ist ein riesiges Missverständnis, wenn man meint, in den hageren Figuren stecke ein Menschenbild. Es geht aber um den Raum. Und das konnte noch niemand so inszenieren wie das Kunstmuseum Wolfsburg. Sonst sperrt man diese ausgezehrten Figuren in Vitrinen oder stellt sie in einer Nische ab. Nein, es ist ein sehr optimistisches Bild, denn Giacometti zeigt, wie der Mensch mit dem Raum in Verbindung steht - und wie er dann schlussendlich auch in der Welt steht. Er eröffnet uns einen riesigen Kosmos von verschiedenen Räumen."

"Der Raum existiert nicht", so notierte Giacometti um 1949, "man muss ihn schaffen. Jede Skulptur, die vom Raum ausgeht, als existiere er, ist falsch, es gibt nur die Illusion von Raum."

Auf 2000 Quadratmetern ist in der großen, werksähnlichen Halle mit Trennwänden, Durchgängen, Fenstern und überraschenden Blickachsen eine Ausstellungs-Stadt entstanden, ganz zugeschnitten auf die jeweiligen Skulpturen. Selbst das nur 25Quadratmeter kleine Pariser Atelier wurde nachgestellt. Der Besucher soll bei immer neuen Rundgängen räumliche Erfahrungen sammeln. Genau dazu will ihn die Museumsabteilung für visuelle Bildung motivieren. Ute Lefarth-Polland:

"Wir setzen - unabhängig von den vielen Informationen über den Künstler, die wir geben - auf den Akt der Wahrnehmung. Es gibt viele Möglichkeiten, Sehhilfen zu geben, das ist vielleicht das richtige Wort dafür: Nähe, Ferne, Verortung einer Figur im Raum."

Viele Höhepunkte hat diese von der Giacometti-Stiftung in Paris und weiteren Leihgebern bestückte Schau zu bieten: In einem runden Raum steht auf einem Sockel der "taumelnde Mann" von 1950, man möchte ihn am liebsten auffangen. Die vom Künstler für die Biennale geschaffenen schmalen Frauenfiguren säumen einen Gang, und in einem Separee wartet eine atemberaubende Porträtbüste, die Alberto Giacometti von seinem Bruder Diego 1954 angefertigt hat. Bei frontaler Sicht nur ein Strich - erst im Profil, bei der Umrundung, entfaltet die Büste ihr kaum geglaubtes Volumen.

Zu spüren ist immer wieder, wie sehr der Künstler nach seiner surrealistischen Vorkriegsphase und vielerlei Anläufen um die Form gerungen hat – perspektivische Wahrnehmung galt es in Bildhauerei zu übersetzen. Markus Brüderlin spricht von einem "Protokünstler des Scheiterns":

"… weil er eben nie zufrieden war und immer weitergearbeitet hat wie ein Besessener und es selber immer als eine Art von Scheitern empfunden hat. Aber gleichzeitig sieht man, und das ist das Erstaunliche, dass das wichtigste bildhauerische Werk aus diesem Scheitern entstanden ist. Eine wunderbare Geschichte, denn wenn man heute das Radio aufdreht, lautet jeder zweite Satz von Politikern: 'Es war erfolgreich'. Alles ist immer erfolgreich. Die wichtigen Dinge auf dieser Welt entstehen erst im Scheitern."

Die Entwicklung in Giacomettis Werk ist in Wolfsburg gut erkennbar: Wie sich die anfangs erstarrten, von ägyptischen Statuen beeinflussten Figuren in Bewegung setzen: Zu den schreitenden Männern gesellt sich auch eine einzige gehende Frau. Da gibt es Figuren, die mit ihrem Sockel verschmelzen oder in einem Käfig hocken oder wie in einem Schaukasten präsentiert werden.

Körperfragmente bilden mit ihrer Todessymbolik einen kleinen, aber einprägsamen Teil dieser Ausstellung. Der abgerissene Arm aus Bronze entstand durch Kriegseindrücke. Und aus einer totenkopfähnlichen Fratze wächst eine unglaublich lange Nase, die wie eine Waffe wirkt. Spätestens bei diesen existentiellen Exponaten kommt man nicht umhin, doch wieder über das Menschenbild Giacomettis nachzudenken. Ute Lefarth-Polland:

"Er wollte an die Basis, an die Essenz dessen herankommen, was den Menschen ausmacht. Es ist ein forschendes Menschenbild - keins, was positiv oder negativ besetzt ist, sondern ein immerwährend forschendes."

Der Zeichner und Maler Giacometti wird dabei keineswegs ausgespart. Farblich zurückgenommene, zum Monochromen neigende Zeichnungen und Gemälde erweitern das Spektrum. Dunkle Köpfe blicken aus der Leere. Arbeiten, die auch für die Bildhauerei von Bedeutung waren.

In den nächsten Wochen wird diese Schau an den Rändern weiter wachsen - durch den Dialog mit zeitgenössischer Kunst aus der eigenen Sammlung. Dabei ist die Präsentation jetzt schon ein Ausstellungshöhepunkt - und zugleich Krönung des bisher erfolgreichsten Jahres in der Geschichte dieses Museums.

Informationen des Kunstmuseums Wolfsburg zur Ausstellung
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