"Du Opfer ...!"

Von Jochen Stöckmann · 17.01.2011
Im Jüdischen Museum in Berlin wurde über den kulturhistorischen Wandel des Begriffs "Opfer" diskutiert: Ein Versuch, politisch-gesellschaftliche "Opferdiskurse" mit den wohl nicht immer ganz ernst gemeinten Opfer-Sprüchen von Jugendlichen in Bezug zusetzen.
Einen Opferstatus zu erlangen, das galt in Deutschland nach 1945 als erstrebenswert. In der DDR wurde der "Opfer des Faschismus" gedacht, die Bundesrepublik mühte sich um Wiedergutmachung dessen, was die nationalsozialistische Gewaltherrschaft nicht nur Juden, sondern auch Kriegsgefangenen oder Sinti und Roma angetan hatte.

Jahrelang gab es eine Konkurrenz der Opfergruppen, über die Entschädigung der Zwangsarbeiter etwa wurde lange gestritten. In Vergessenheit geriet über diese ausschließlich politischen Diskurse der ursprüngliche, der religiöse und kulturhistorische Sinn des Opferbegriffs, meint der Religionswissenschaftler Mohsen Mirmehdi:

"Das halte ich für abwegig, wenn die Schoah als Holocaust bezeichnet wird: Holocaust ist ein antiker Opferkult-Begriff. Wenn man die Ermordeten in den KZs als Opfer bezeichnet, dann würde man so etwas wie einen kulturellen Sinnzusammenhang konstruieren."

Mirmehdi, geboren in Teheran, weist bei der Podiumsdiskussion im Jüdischen Museum auch auf die Bedeutung von "Kurban", dem muslimischen Opferfest hin: es knüpft an das Opfer Abrahams an, ist ein Plädoyer für die Abschaffung des Menschenopfers, im Grunde eine Opfer-Kritik. Soweit die Theorie.

Und dann dies: Zu der "I Will Survive"-Fanfare von Gloria Gaynor tanzen Jugendliche im KZ Auschwitz, schauen aus Güterwaggons, wippen vor dem Krematorium mit den Fußspitzen. Unter ihnen ein älterer Herr mit der Aufschrift "survivor" auf dem T-Shirt. Es sind die Enkel eines KZ-Überlebenden, die dieses Internet-Video zusammen mit ihrem Großvater gedreht haben.

"Real Chuzpe" kommentierte ein Youtube-Besucher - und der verstörende Filmclip könnte durchaus als selbstbewusste Reaktion gesehen werden darauf, dass auch jüdische Kinder auf dem Schulhof als "Du Opfer" verhöhnt werden - auf Deutsch, nicht auf Türkisch oder in arabischer Sprache. In vielen anderen Sprachen nämlich sind die Begriffe für "sacrificium", das dargebrachte Opfer, und "victim", das mit Gewalteinwirkung geforderte Opfer unterschieden.

Andererseits bettet die Politologin Anne Goldbogen das Schimpfwort "Du Opfer" in einen globalen Zusammenhang ein:

"Populär geworden ist er zeitgleich mit dem Begriff 'Du Jude' Anfang der 2000er Jahre, mit der zweiten Intifada, mit dem Anstieg auch antisemitischer Stereotype, die dann wellenförmig durch Europa gegangen sind."

Norbert Dittmar dagegen, ein Soziolinguist, hat nicht nur das Grimmsche Wörterbuch und Lexika gewälzt, sondern digitale sogenannte "Korpora" zu Rate gezogen, Quellentexte aus Zeitungen, aufgezeichneten Alltagsgesprächen und auch jugendbewegter Literatur wie Feridun Zaimoglus "Kanaksprak":

"Dass eben sehr stark über 'Kanaksprak' von Zaimoglu dann neue Bedeutungen entstanden sind, soweit ich sehe - und da kratze ich mich dann hinter dem Ohr als Linguist - da sagen die dann 'der Opfer'. Und wenn die sagen 'der Opfer', dann meinen die wahrscheinlich schon ein ganz anderes Wort."

In dieser unentschiedenen Situation war es ausgerechnet der Religionswissenschaftler Mirmehdi, der die dahinplätschernde Diskussion zuspitzte mit einem Verweis auf den Philosophen Martin Heidegger, der 1924 mit seiner Formel vom "Geworfensein" die Hilflosigkeit menschlicher Existenz, ihre Opferhaftigkeit betont habe:

"Ich finde, dass es eine Kristallisationsfigur ist, die sich seit Entstehung der modernen Wirtschaftsformen, modernen Wirtschaftsgesellschaften und eben auch Wirtschaftskrisen meldet: Entbehrung von Respekt und Liebe, reduziert auf Adressaten von Kaufkraft, die sie nicht aufbringen können, Objekte der Kultur- und Konsumindustrie zu sein und Sinnlosigkeit. Deshalb halte ich das für einen Hilferuf."

Damit war das eigentliche Problem auf dem Tisch: Finden die politisch-gesellschaftlichen "Opferdiskurse", der Streit um das Berliner Holocaust-Denkmal oder die Erinnerungsstätte an die vom NS-Regime ermordeten Schwulen, der Konflikt um die Entschädigung von Zwangsarbeitern nicht in ganz anderen Sphären und Sprachwelten statt, als die wohl nicht immer bitterernst gemeinten "Opfer"-Sprüche von Jugendlichen? Sollte sich da aber tatsächlich ein weiterreichender Mentalitätswandel andeuten, dann wurde dieser Verdacht an diesem Abend kaum erhärtet.