Drittes Reich

"Jedes Mal wieder völlig sprachlos, wenn ich die Stolpersteine sehe"

Cem Özdemir
Cem Özdemir © dpa picture alliance
Moderation: Klaus Pokatzky · 27.01.2014
Grünen-Chef Cem Özdemir ist in Schwaben aufgewachsen. Bis heute ist ihm eine Sache besonders in Erinnerung geblieben: Wie seine Lehrer ihn und seine Mitschüler mit dem Holocaust konfrontierten.
Klaus Pokatzky: Heute ist es auf den Tag genau 69 Jahre her, dass Soldaten der Roten Armee die Konzentrations- und Vernichtungslager in Auschwitz von den nationalsozialistischen Massenmördern befreit haben, am 27. Januar 1945. Anderthalb Millionen Menschen mussten ihr Leben in der Mordfabrik lassen, ein paar Tausend halb verhungerte Menschen fanden die sowjetischen Soldaten noch vor und mehr als eine Million Kleider, 45.000 Paar Schuhe und sieben Tonnen Menschenhaar. Das war das Ende des perversen Ziels der Nationalsozialisten, alle elf Millionen Menschen in Europa mit jüdischem Glauben oder jüdischen Wurzeln zu ermorden. Heute, am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts der Vereinten Nationen, erscheint ein Buch mit dem Titel "Was hat der Holocaust mit mir zu tun?". Und auf diese Frage hat in dem Buch auch der Grünen-Politiker Cem Özdemir geantwortet. Guten Tag, Herr Özdemir!
Cem Özdemir: Guten Tag, Herr Pokatzky!
Pokatzky: Herr Özdemir, was haben Sie als 1965 im schwäbischen Urach geborener Sohn zugewanderter türkischer Eltern mit dem Holocaust zu tun?
Özdemir: Ich bin zwar Kind meiner Eltern, also bin Nachfahre von sogenannten Gastarbeitern, die in den 60ern in die Bundesrepublik Deutschland eingewandert sind, aber ich bin auch Vorsitzender einer deutschen Partei, ich bin Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland. Insofern ist logischerweise das Verhältnis zu Israel Teil meiner Staatsräson und der Holocaust ist Teil des Erbes, das ich als Bundesbürger trage, ganz im Sinne des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker nicht im Sinne von Schuld, die sich vererbt, sondern im Sinne von Verantwortung. Und das kann ich als Bundesbürger aus tiefstem Gewissen und tiefster Überzeugung mit vertreten und auch die Überzeugung, alles dafür zu tun, damit sich dieses schreckliche Verbrechen niemals wiederholt.
Pokatzky: 37 Autorinnen und Autoren haben an dem Buch mitgearbeitet. Als Sie jetzt gebeten wurden vor einiger Zeit, dass Sie die Frage beantworten, was hat der Holocaust mit mir zu tun, was ist Ihnen denn da spontan durch den Kopf und das Herz gegangen?
Özdemir: Es ist jetzt nicht das erste Mal, dass ich mich zu dem Thema äußere und zu dem Thema auch publiziere oder schreibe oder Interviews gebe. Ich erinnere mich an meine Schulzeit, ich habe im schwäbisch Bad Urach die Schule besucht und wir hatten sehr, sehr engagierte Lehrer, ich hatte unter anderem auch einen Lehrer, der uns nach Dachau gebracht hat damals. Und dort haben wir mit einem Überlebenden gesprochen, leider gibt es ja nicht mehr viele Überlebende mittlerweile. Und das hat mich unglaublich beeindruckt, weil ich am Nachmittag eine türkische Schule besucht habe dreimal die Woche oder zweimal die Woche, ich weiß es gar nicht mehr genau, und im türkischen Unterricht am Nachmittag habe ich eigentlich immer nur gelernt, wie glorreich die Osmanen, wie glorreich die Türken, die Seldschuken waren, dass man einen Krieg nach dem anderen gewonnen hat. Und dass es dabei vielleicht auch Tote gab, dass es dabei vielleicht auch Verbrechen gab, das war völlig unvorstellbar. Und dann war ich eben in der deutschen Schule vormittags und ich habe eine ganz andere Geschichte vermittelt bekommen. Ich habe gelernt, dass die eigenen Vorfahren, also in dem Fall die deutschen Vorfahren, schlimmste Verbrechen begangen haben sollen. Ich habe gehört, wie der Lehrer zu meinem völligen Erstaunen über Deutschland gesprochen hat, das damalige Deutsche Reich, über die Verbrechen, die im Namen des Deutschen Reiches begangen wurden, und war völlig sprachlos, weil ich das nicht kannte. Und das hat mich zutiefst beeindruckt und, ich will auch durchaus sagen, geprägt.
Der türkische Umgang mit Vergangenheit
Pokatzky: Auf der deutschen Schule, haben die Lehrer Sie bei diesem Thema im Unterricht anders behandelt als die Schüler mit Eltern, die so die Urschwaben sind, also die nicht nach Deutschland zugewandert sind?
Özdemir: Nicht bewusst, erst viel später vielleicht dann, als man älter wurde, kam dann auch das Thema, wie ist es denn eigentlich in der Türkei, wie ist das denn mit dem türkischen Umgang mit Vergangenheit. Aber zu dem Zeitpunkt, als ich auf der Realschule war, spielte das keine Rolle, dass ich eine andere Herkunft habe. Da waren die Lehrer mehr mit dem Lehrplan beschäftigt und weniger jetzt mit den einzelnen Schülern. Aber mich selber hat das natürlich ungemein beschäftigt, ich habe das mit nach Hause genommen und gewälzt im Kopf.
Pokatzky: Was haben die Eltern dazu gesagt, haben Sie mit den Eltern darüber gesprochen?
Özdemir: Die fanden das natürlich genauso erstaunlich und ungewöhnlich, dass ein Land in der Schule eben nicht Propagandaveranstaltungen macht, sondern sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzt. Was sie natürlich jetzt nicht wussten, ist, welchen Prozess das hinter sich hat, wie das zustande kam, dass das auch in Deutschland nicht immer eine Selbstverständlichkeit war. Das konnte man jetzt als Gastarbeiterfamilie nicht unbedingt wissen, das hat einem ja auch niemand beigebracht. Was ich übrigens auch immer erstaunlich fand, war, dass wir zwar in der Schule das vermitteln, aber so tun, als ob Kinder aus Familien von Zuwanderern wie selbstverständlich quasi das alles wissen und wie selbstverständlich auch einordnen können.
Pokatzky: Haben Sie diese Geschichte gleich als junger Schüler als Ihre eigene Geschichte angenommen oder war das so ein Prozess?
Özdemir: Beides. Ich habe mich schon wahrgenommen als Schwabe, als Uracher, als Teil der Klasse, nicht anders. Aber gelegentlich hat sich die Mehrheitsgesellschaft schwergetan mit mir und mich nicht unbedingt wahrgenommen als Teil. Also, ich habe schon manchmal gehört, das hat ja nichts mit dir zu tun oder das hat ja nichts mit deiner Geschichte zu tun.
Pokatzky: Und was haben Sie da gesagt, wie haben Sie da reagiert?
Özdemir: Erst mal gar nicht, erst mal musste ich das alles irgendwie verkraften und selber quasi mal für mich klären, was ich eigentlich bin und wo ich jetzt dazugehöre.
Pokatzky: Wann hatten Sie das geklärt, gab es da irgendwann mal so einen Zeitpunkt, wo Sie sagen konnten, ja, ich gehöre hierhin, ich bin Deutscher und damit ist das auch meine Geschichte?
Özdemir: Die Entscheidung habe ich ja nicht selber getroffen, die wurde im Kreißsaal von Bad Urach im Kreiskrankenhaus getroffen, als die ersten Worte, die ich dort vernahm – ich gebe zu, die Erinnerung verblasst! –, Schwäbisch waren im Kreißsaal. Insofern, da wurde ich nun nicht wirklich gefragt, wo ich geboren sein will. Und wenn man in vielen Ländern der Welt, vor allem der westlichen Hemisphäre auf die Welt kommt, dann ist man mit der Geburt Staatsbürger. In Deutschland war das damals nicht so, da war man mit der Geburt erst mal Ausländer und ich habe dann mit ungefähr 16 mich entschieden, noch Staatsbürger in Deutschland zu werden. Und durch den Schritt mit der Einbürgerung war natürlich auch klar, wenn man Bürger dieses Landes ist, dann gehört auch die Geschichte dieses Landes zu mir dazu, mit ihren schönen Seiten, aber auch mit ihren dunklen Flecken.
Anders umgehen mit Verbrechen
Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur der Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen zur Frage: Was hat der Holocaust mit mir zu tun? Herr Özdemir, wenn wir eine Bilanz ziehen sollten, wie die Deutschen versucht haben, ihre nationalsozialistische Vergangenheit aufzuarbeiten: War das gelungen?
Özdemir: Mit Umwegen, aber im Nachhinein gesehen ja. Vor allem: Ich habe ja nun auch als Außenpolitiker die Gelegenheit zu vergleichen mit anderen Ländern, darunter auch dem Land meiner Vorfahren, der Türkei. Und da muss man schon sagen, die Bundesrepublik Deutschland hat da Erstaunliches geleistet. Man muss vor allem den vielen, vielen Leuten vor Ort ein großes Kompliment machen, die sich da einsetzen. Ich bin jedes Mal wieder völlig sprachlos, wenn ich die Stolpersteine sehe und leider auch manchmal den Kampf, den es da gibt, dass man eben daran erinnert, wer früher wo mal gewohnt hat, in welchem Haus. In meiner Geburtsstadt Bad Urach hat man da früher immer ein bisschen getuschelt, hier in der Straße hat mal der und der gewohnt, da gab es mal noch den. Und offen wurde das damals in der Schule nicht behandelt. Auch da ist man mittlerweile wieder einen Schritt weiter. Das hat mich immer wahnsinnig beeindruckt, dass es da so viele Leute gibt, die ehrenamtlich auf den Friedhof gehen, den Friedhof pflegen und andere Dinge machen. Das fand ich eigentlich immer klasse. Und wenn ich in der Türkei war oder anderswo war, dann habe ich da immer ganz stolz davon berichtet, wie in meinem Land, wie in der Bundesrepublik Deutschland eben die Menschen anders umgehen mit dem schrecklichen Verbrechen, das in ihrem Namen und in ihrem Land begangen wurde und wo man leider damals den Mut nicht hatte, Hitler in die Speichen zu greifen, dem Nationalsozialismus was entgegenzusetzen, aber zumindest das Lernen daraus danach hat stattgefunden. Und das finde ich etwas, wo man auch ein Stück stolz drauf sein kann.
Pokatzky: Was glauben Sie, was fangen Migranten, vor allem solche mit einem muslimischen Hintergrund, mit heutigen Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts an? Interessiert die das überhaupt?
Özdemir: Viele ja, aber natürlich ist es auch nicht so einfach, wenn man in der Schule das eine lernt – und nicht jeder Lehrer ist jetzt auch vorbereitet auf eine multireligiöse Schulklasse mit Kindern, die einen völlig anderen Erfahrungshorizont haben –, und dann geht man nach Hause und hört vielleicht zu Hause entweder im besten Fall gar nichts und im schlimmsten Fall das Gegenteil davon oder wird eben vergiftet mit antisemitischen Stereotypen, die aus bestimmten Fernsehkanälen über Satelliten in unsere Wohnzimmer kommen. Dass das für Kinder eine sehr belastende Situation ist, auch sie überfordern kann, kann ich mir sehr gut vorstellen. Umso wichtiger, dass wir in der Schule im Idealfall mit den Eltern, manchmal im Konfliktfall auch gegen die Eltern die Werte unserer Gesellschaft auch zu vermitteln versuchen. Und da spielt das Thema eine ganz wichtige Rolle, dass man an persönliche Erfahrungen anknüpft. Viele erfahren ja Diskriminierung manchmal im Alltag und da muss man halt klarmachen: Die Diskriminierung, die man für sich selber nicht wünscht, die darf man auch anderen nicht zuteil werden lassen. Also, wenn ich auf dem Schulhof höre, dass Jude ein Schimpfwort ist und leider auch manchmal von arabischen oder türkischen Kindern verwendet wird, dann würde ich als Lehrer oder Sozialpädagoge, Erzieher oder was auch immer versuchen, das zu thematisieren. Ich weiß, das ist nicht einfach, aber man muss es trotzdem machen!
Pokatzky: Danke, Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen! Das Buch "Was hat der Holocaust mit mir zu tun?" erscheint heute im Pantheon Verlag, herausgegeben von Harald Roth, 304 Seiten stark, 37 Autorinnen und Autoren haben auf die Frage geantwortet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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