Dramaturgische Operationen ohne Mehrwert

Von Volker Trauth · 03.03.2012
Ständige Gänge zum Klosett, öffentliches Masturbieren und die Fastzerstörung einer Familie: Frank Castorfs Inszenierung der Kleist-Novelle "Die Marquise von O." an der Volksbühne bietet wenig Neues.
Es gehört zu Frank Castorfs Markenzeichen, dass er vorgeformte Texte zertrümmern, mit Fremdtexten verschränken und zu einem neuen dramatischen Gebilde umformen kann, ein Gebilde, das eine neue Aussage trifft und einem anderen Rhythmus folgt.

So ist er auch mit Kleists Novelle "Die Marquise von O.." verfahren. Über die Hälfte des gesprochenen Textes ist hinzugefügt. Das beginnt damit, dass der Regisseur einen neuen historischen Schauplatz und eine andere Zeit des Geschehens entwirft. Er verlagert die Geschichte der ungewollten Schwangerschaft der Heldin von der oberitalienischen Stadt Modena, die soeben von russischen Truppen einer Koalitionsarmee erobert worden ist, in das Berlin der Befreiungskriege, in eine Stadt, in der die russischen Truppen die Franzosen als Besatzungsmacht abgelöst haben.

Zur Kennzeichnung von Ort und Zeit singen die Teilnehmer der Tafelrunde im Hause des Obristen und Vaters der Marquise das berühmte Lied von "Lützows wilder verwegener Jagd" und der Obrist selbst zitiert Zeilen aus Heiner Müllers Einakter "Das Laken". "Hier sitzen die Nazis und dort die Russen", sagt er und der Regisseur will damit andeuten, dass die Familie in einer Situation zwischen den feindlichen Linien lebt.

Am Tisch der Obristenfamilie ergötzt man sich an Skandalgeschichten. Von einer Dame in Frankreich ist die Rede, die bei der Erdrosselung eines tollwütigen Hundes selbst von der Tollwut heimgesucht worden ist und von einem Patienten, dem die eigene Rippe nach innen gewachsen sein muss. Nachdem später noch der Hausherr von tollen Sonderangeboten schwärmt und die Schulaufgaben der Tochter überprüft, vollendet sich das Bild einer Spießerfamilie; die tragische Geschichte von der Fastzerstörung einer Familie, die von einem unfassbaren Ereignis (der Schwängerung der Tochter) betroffen wird, wandelt sich zu einer Klatsch- und Tratschgeschichte im Tonfall von RTL.

Im zweiten Teil übertrifft die hinzugefügte Textmenge den Originaltext. Im Zuge eines Rollenspiels, das der Vater mit der Tochter exekutiert, wird diese in eine Figur aus Kleists anderer Novelle "Die Verlobung von San Domingo", eine von Eingeborenen verfolgte Weiße, transformiert. Ihr Beschützer ist überraschenderweise der Graf aus der Novelle "Die Marquise von O..". Auf wundersame Weise verwandelt sich die bedrängte Dame aus San Domingo in die tapfere Marquise und schwört, fortan ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen zu wollen.

Die von Kleist zumeist in indirekter Rede berichteten Ereignisse werden in langen Monologen vorgetragen und in ihren Verläufen nur an wenigen Stellen verändert. So ist bei Castorf der angebliche Vergewaltiger Leopardo, der bei Kleist eine Erfindung der Obristin ist, leibhaftig zugegen und ins Spiel eingeweiht, und der Scheck über die 20.000 Reichsmark wird vom Grafen nicht aufs Bett des Kindes gelegt, sondern von der Hausherrin durch zänkisches Feilschen dem Spender abgetrotzt.

Der Gewinn solch aufwendiger dramaturgischer Operationen bleibt überschaubar, der Verlust wird erkennbar in zunehmender Langeweile und Gleichförmigkeit des Abends. Was man so oft bei Castorf gesehen hat - das Hantieren mit Kartoffelsalat, die ständigen Gänge zum Klosett und das öffentliche Masturbieren - darf nicht fehlen. Kathrin Angerer als Marquise ist zunächst eine ständig sich zierende manirierte Nörglerin, wächst aber mit dem Entschluss zum selbständigen Handeln zu einer großen Tragödin. Insgesamt kann Castorf die Begründung Klaus Wowereits für seine Vertragsverlängerung (er habe die Fähigkeit, sich ständig neu zu erfinden) nicht bestätigen. In der Volksbühne nichts Neues.
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