Dramaturg: Herrndorf ist Publikum wichtiger als Preis

Robert Koall im Gespräch mit Susanne Burg · 16.03.2012
Wolfgang Herrndorf ist für seinen Roman "Sand" mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden. Die Auszeichnung wurde von dem Dramaturgen Robert Koall entgegengenommen. Herrndorf freue sich "wahnsinnig über den Preis", sagt der langjährige Freund. Seit 2010 leidet der Autor an einem Hirntumor.
Susanne Burg: Wolfgang Herrndorf, Jahrgang 1965, ist der neue Preisträger der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik. Schon im letzten Jahr war er nominiert, und zwar für seinen Erfolgsroman "Tschik". Nun erhielt er den Preis für seinen neuen Roman "Sand". Das ist ein surrealistischer Thriller, der uns in den Sommer Nordafrikas des Jahres 1972 geleitet. Es geht um Agenten und Spione, um einen mörderischen Anschlag auf eine politisch-spirituelle Kommune und den Versuch, dieses Verbrechen aufzuklären.

Das klingt vergleichsweise übersichtlich, ist es aber nicht. Herrndorf spielt und verwebt Handlungen, legt Irrwege und mehrdeutige Fährten an. Den Leipziger Buchpreis hat er wegen seiner schweren Krankheit nicht entgegennehmen können, für ihn kam Robert Koall, langjähriger Freund und derzeitiger Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden. Koall hat Herrndorfs Roman "Tschik" in eine Bühnenfassung umgewandelt. Das Stück wurde im letzten November in Dresden uraufgeführt.

Gestern Abend hatte ich die Gelegenheit, mit Robert Koall zu sprechen, und ich habe ihn zunächst gefragt, ob er schon eine Reaktion auf den Preis von Wolfgang Herrndorf bekommen hat und wie es ihm damit ergeht, dass Herrndorf nicht dabei sein konnte.

Robert Koall: Damit geht es ihm, glaube ich, ziemlich gut, ehrlich gesagt. Wolfgang Herrndorf ist kein großer Fan von solchen Terminen, und ich bin mir sicher, dass er, auch wenn er gesund wäre, sich dreimal überlegt hätte, ob er zur Leipziger Buchmesse fährt – Preis hin oder her. Wir haben nicht gesprochen, wir haben eben ein bisschen gesimst. Er freut sich wahnsinnig über den Preis.

Burg: Wolfgang Herrndorf schreibt ja einen Blog, und darin spricht er auch über seinen Hirntumor. Manchmal klingt das geradezu brutal lapidar, manchmal lakonisch. Da heißt es zum Beispiel am 17.02., ich zitiere: "Traum: Urlaub in Marokko, und mir fallen der Reihe nach die Goldzähne aus." Es ist ja in gewisser Weise wirklich ein Tod auf Raten, an dem er uns, die Öffentlichkeit, auch wirklich teilhaben lässt. Wie erleben Sie ihn denn im Umgang mit seiner Krankheit?

Koall: Ich würde mich da gerne, wenn Sie das gestatten, auf das Blog beschränken. Was er zu seiner Krankheit zu sagen hat und wie man ihn damit erleben kann, das veröffentlicht er selber im Netz und behält die Deutungshoheit darüber. Dem möchte ich eigentlich nichts hinzufügen, was an das Private rührt. Es geht ihm im Moment gut, und es geht ihm im Moment auch in seiner Gemütsverfassung gut, und der Preis wird sein Übriges dazutun.

Burg: Kommen wir zurück zum Preis. In der Begründung der Jury heißt es, ich zitiere: "Sand ist ein Thriller, ein Spiel um Gewalt, Verfolgung, Selbstsuche und Tod. Was diesen Roman so einzigartig macht, ist, mit welcher Leichtigkeit, welcher Eleganz im Ton und welchem Sinn von Komik Wolfgang Herrndorf diese absolute Alptraumszenerie erzählt." Soweit die Begründung. Was zeichnet denn für Sie diesen Roman aus?

Koall: Na ja, die Jury trifft es ganz gut in ihrer Begründung, finde ich. Wenn Sie den Vorgängerroman nehmen, "Tschik", der eine 180 Grad andere Welt erzählt, eine helle Welt, eine Welt voller freundlicher Menschen, eine Welt mit Liebe und Hilfsbereitschaft, dann werden Sie feststellen, der Ton, in dem das Ganze erzählt wird, ist ein ganz, ganz ähnlicher, nämlich einer, der es heiter, leicht, locker, lakonisch trotzdem beschreibt, was er da beschreibt. Das finde ich das Tolle an dem Buch, das Tolle, Großartige an dem Erzähler und Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, dass ihm das gelingt, diese zwei verschiedenen Bücher, diese zwei verschiedenen Themen trotzdem mit dieser Helligkeit zu behandeln.

Und trotzdem, was in "Sand" beschrieben wird – Sie haben es gerade gesagt – in der Begründung der Jury, da gibt es Folterszenen, da gibt es einen Helden, der wirklich durch biblische Plagen durchgeschickt wird, mit einem lächelnden Autor, der ihn da durch schickt. Trotzdem die Umstände, in denen dieser Held sich durch die Geschichte bewegt, sehr, sehr düster sind, ist es der Ton nicht und ist auch das Buch nie eines, was einen angreift oder was einen verstört. Es ist immer ein Buch, was einem eine große Freude macht, einen großen Spaß macht, in das man versinken kann.

Burg: Viele Kritiker sagen ja auch, vor diesem Roman steht man selbst wie vor einer riesigen Sanddüne, bei der man leicht die Orientierung verliert. Alles sei so doppelbödig, so suggestiv, geradezu kafkaesk. Haben auch Sie die Orientierung verloren?

Koall: Nee, und die Kritiker verstehe ich nicht. Das Bild mit der Sanddüne ist natürlich einfach und leicht zu wählen, und kafkaesk wird auch immer gerne bemüht, wenn man sich mal ein bisschen mehr Mühe geben muss, beim Lesen aufzupassen – ich sag’s mal ein bisschen bösartig. Dieses Buch ist sehr klar und sehr unverrätselt, aber natürlich spielt es damit, dass es den Leser auf falsche Fährten führt und dass man Figuren hat, die man erst mal so nicht entschlüsseln kann.

Aber das tut jeder gute Thriller, das tut jeder gute Kriminalroman, von Agatha Christie bis Alfred Hitchcock. Insofern verstehe ich immer diesen Satz, der in vielen Kritiken steht nicht, das Buch sei verrätselt und würde einen ratlos zurücklassen, es würden offene Enden überall herumliegen. Blödsinn, die Enden werden alle durchgeführt, am Schluss kann man sehr klar erkennen, wer wer ist, wer was erlebt hat, wer tot ist, wer lebendig, wer gut ist, wer böse – fertig.

Burg: Sie haben eben ja schon den Begriff Spionagethriller erwähnt, man kann den Sand aber auch als eine Art karge geistige Landschaft verstehen. Wie stark sind denn für Sie diese philosophischen Untertöne?

Koall: Na, das Wort philosophisch ist mir fast ein bisschen zu groß, aber Sie haben natürlich vollkommen recht, dass es mehrere Dimensionen in diesem Buch gibt. Wolfgang Herrndorf hat gesagt, dass die Entscheidung für Sand – nicht für den Titel, sondern für die Landschaft Sand, für die Landschaft Wüste – gefallen ist aus der Überlegung heraus, dass er eine unbarmherzige und gleichzeitig pathetische Landschaft haben wollte. Er hat auch überlegt, dass das Buch auch in der Arktis vielleicht spielen könnte, hat sich dann für die Wüste entschieden, und natürlich ist die Metapher eine, die Sie bis zum Get No auswälzen können. Sie erzählt von Einsamkeit, sie erzählt von Orientierungslosigkeit, sie erzählt vom Verrinnen von Zeit – in der Sanduhr, wenn Sie so wollen –, sie erzählt von einer gnadenlosen Umwelt vor allen Dingen.

Und das ist, glaube ich, das, was ihm am wichtigsten war. Ob das philosophisch ist, mag ich nicht beurteilen, aber was ihm am wichtigsten war, einen Gedanken zu transportieren, nämlich den Gedanken, in einer solchen Welt, in einer feindlichen Welt ist der Mensch nichts, überhaupt nichts. In den letzten Sätzen wird noch ein Mensch, ein kleines Mädchen, als Leiche mit einem Schuttberg über einen Hügel hinabgeschüttet, und es ist Tabula rasa. Es gibt im Buch selber einen Satz, ich weiß nicht mehr, wer ihn sagte, aber er sagte, in einer solchen Landschaft (wie der Wüste) – Klammer auf, Klammer zu – wird der Mensch unbedeutend. Und das ist, glaube ich, die Dimension dieser Welt.
Burg: Der diesjährige Preisträger der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik heißt Wolfgang Herrndorf. Ich spreche hier im Deutschlandradio Kultur mit seinem langjährigen Freund, dem Dramaturgen Robert Koall.

Herr Koall, Sie haben eben schon den letzten Roman "Tschik" erwähnt – inwieweit kann man denn den neuen Roman "Sand" auch als eine Art nihilistischen Gegenentwurf zu diesem Roman "Tschik" lesen, der ja eine Art Abenteuergeschichte war mit zwei pubertierenden Jungens aus einem Berliner Randbezirk, die durchbrennen und sich mit einem geklauten Lader dann auf den Weg in die Walachei machen?

Koall: Das ist ein nihilistischer Gegenentwurf, da haben Sie recht, das ist ein Satz, der Wolfgang Herrndorf auch gesagt hat, dass er das Buch als nihilistischen Gegenentwurf zu "Tschik" begonnen hat. Er hat diese Bücher in ihrer ideenhaften Entstehung gleichzeitig dort liegen gehabt. Jetzt fragen Sie mich vielleicht als Nächstes, ob das einen bestimmten Plan verfolgt, dass er zwei so unterschiedliche Bücher, die jeweils an einem Ende einer Skala liegen, geschrieben hat. Ich glaube, dass das einfach eine Notwendigkeit des Autors ist, zu sagen, ich muss mich reinbegeben in Gegenzustände, ich möchte gerne diese Welt auch einmal von der anderen Seite betrachten, das Schwarze und das Weiße und das Helle und das Dunkle.

Und ich finde, dass man bei beiden Büchern merkt, dass es einen diebischen Spaß gemacht hat, dem Autor, sie zu schreiben. Ich finde, dass das zwischen den Zeilen immer wieder aufscheint, dass da jemand mit Lust schreibt, mit der Lust daran, seinen Figuren andere Figuren beizugesellen, die wahnsinnig absurd sind teilweise, wahnsinnig komisch sind teilweise, ein Erzähler, der Lust hat, seine Helden in die immer nächste unmögliche Situation stolpern zu lassen. Und das macht großen Spaß, und insofern ist auch der nihilistische Gegenentwurf – ich sag das noch mal gerne – keiner, der freudlos ist, im Gegenteil, er ist für mich unheimlich reich und satt und freudvoll.

Burg: Sie haben ja die Bühnenfassung für "Tschik" erarbeitet, das Stück wurde im letzten November in Dresden uraufgeführt. Wenn man "Tschik" liest, dann hört man förmlich den Sprachduktus der Jugendlichen, man könnte also denken, dass sich der Roman für die Bühne geradezu anbietet. Stimmt dieser Eindruck oder war es vielleicht doch schwierig, daraus eine Bühnenfassung zu machen?

Koall: Nein, überhaupt nicht, der Eindruck stimmt – wobei ich nicht weiß, ob das wirklich "nur", in Anführungsstrichen, an der Sprache der Jugendlichen liegt. Ich finde, das liegt an Herrndorfs Sprache insgesamt, die – das stellt man fest, wenn man sie sprechen lässt von Schauspielern, die etwas von Sprache verstehen – die gesprochen noch einmal dazugewinnt, weil man erst dann merkt, wie genau und wie lakonisch sie geschrieben ist und wie sie schnodderig-lakonisch ist, ohne gezwungen auf Umgangssprache zu sein.

Burg: Gab es denn trotzdem Herausforderungen?

Koall: Ja, dass man so verliebt ist in dieses Buch und seine Figuren, und eine Dramatisierung eines Romans vor allen Dingen bedeutet, weglassen, weglassen, weglassen – das fiel schwer, bei vielem, ja. Ansonsten, das soll überhaupt nicht kokett sein, aber das hat sich von selber dramatisiert.

Burg: Jetzt sehen bei "Sand" ganz viele Kritiker Filmszenen vor sich, das sandreiche Nordafrika quasi als Dorado für Cineasten. Wie geht’s Ihnen, sehen Sie diesen Roman auch eher als Film denn als Theaterstück?

Koall: Auf der Bühne sehe ich ihn überhaupt nicht, es ist ein Buch-Buch, ein Literaturbuch, und den Film würde ich mir sehr gerne angucken.

Burg: Kommen wir noch mal zurück auf den Leipziger Buchpreis: Wolfgang Herrndorf war ja schon mal nominiert, im letzten Jahr, mit "Tschik", und damals wie auch jetzt lag er in der Gunst des Publikums ganz vorne. Wie wichtig ist ihm so was, dass er nicht nur bei einer Jury, sondern beim Publikum gut ankommt?

Koall: Ich glaube, das Publikum ist ihm wichtiger, vermute ich mal, seine Leser. Wolfgang Herrndorf hat ja ein etwas gespaltenes Verhältnis zur Kritik und zur Literaturwissenschaft, aber nicht zu seinen Lesern.

Burg: Sagt Robert Koall, Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden und langjähriger Freund von Wolfgang Herrndorf. Er hat gestern für den schwerkranken Herrndorf den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse im Namen von Herrndorf entgegengenommen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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