"Double Vision" im Berliner Kupferstichkabinett

Unterhaltung mit den Bildern im Kopf

Der südafrikanische Multimedia-Künstler William Kentridge steht am 30.01.2014 bei einer Fotoprobe des Theaterstücks "Drawing Lessons / Refuse the Hour" im Schauspielhaus in Hamburg auf der Bühne.
Der südafrikanische Künstler William Kentridge © picture alliance / dpa - Malte Christians
Von Jochen Stöckmann · 18.11.2015
Das Berliner Kupferstichkabinett bringt den südafrikanischen Künstler William Kentridge mit Albrecht Dürer, dem Meister der Renaissance, zusammen. Entstanden ist ein faszinierendes Lehrstück über die Möglichkeiten druckgrafischer Kunst.
Von der Skulptur zurück zur Zeichnung, die – vervielfältigt und variiert – aus einem Buch ein rhythmisch bewegtes Daumenkino macht. Diese "lecture", diese Lektion von William Kentridge war die bitter nötige Begleitmusik für ein akademisches Forschungsprojekt: Denn die Bildwissenschaften stecken fest im Richtungsstreit, kreisen um sich selbst. Klaus Krüger von der FU Berlin:
"Wir haben auf der einen Seite die Verabsolutierung des Ästhetischen, das dann fast zu einer Religion von "Bildsinn" erhoben wird. Und auf der anderen Seite eine zunehmende Kontextualisierung: Bilder werden zu Referenzsystemen. Wir wollen versuchen, diese Extreme, diese Gegensätze wieder zusammenzuführen."
Das besorgt nun William Kentridge. Der südafrikanische Künstler hat Theater-Erfahrung. Im virtuosen Medienwechsel zerreißt er ein Graphikblatt, setzt die Papierfetzen neu zusammen, animiert das Puzzle mit der Kamera und lässt die Einzelteile rotieren, bis der Eindruck einer dreidimensionalen Skulptur entsteht. Das ist unterhaltsam – und einsichtig. "Evidenz ausstellen" – so heißt das Wissenschaftsprojekt. Kentridges Empfehlung: Spielerisch experimentieren, ohne feste Regeln, wie das Licht auf dem Wasser.
Materialität von Schwarz-Weiß-Graphik
Wie diese Vorstellung von hell flirrenden Lichtern auf schwarzem Wasserspiegel sich materialisiert, das ist in der Ausstellung des Kupferstichkabinetts – fast möchte man sagen: hautnah zu erleben. Unter drehbaren Lupen wird die Materialität, die stoffliche Farbigkeit von Schwarzweiß-Graphik sichtbar. Stereoskopische Doppelgläser verwandeln flächige Bilder in kulissenartig aufgebaute Räume. Ob "Walking Man", ein wandelnder Baum in Männergestalt, oder die Bilderzählung "Felix in Exile" – Ausgangspunkt ist die Graphik, insbesondere die Radierung.
Da lag es nahe sich an Albrecht Dürer – nein: nicht zu messen, sondern produktiv zu reiben: Dieses unglaubliche Können im Umgang mit der Kupferplatte. Ein Auge, die Feinheiten zu sehen. Die Kontrolle der Handbewegung. Das ist schwer zu erlernen – und wer es nicht kann, muss eine andere Sprache finden. Bekannte Motive des Renaissance-Künstlers hat Kentridge für diese Suche nach anderen, neuen Ausdrucksweisen ausgewählt. Zum Beispiel jenes Rhinozeros, das schon bei Dürer keineswegs eindeutig ausfiel, sondern "Double Vision", den doppelten oder mehrfachen Blick herausforderte. Dann sehen wir einen Verweis auf die Dingwelt, das Tier. Jemanden, der sich ein Tier einbildet und zeichnet. Die Art, wie er es ins Holz schneidet. Mit all dem im Kopf schauen wir auf das Bild vom Rhinozeros.
Wie seine Version zustande kam, hat Kentridge in einer Film-Performance demonstriert. Da steht im Atelier der doppelte William: Ein "physical maker", der kunstfertig agierende Zeichner. Und dahinter der "watcher", der Betrachter mit seinen selbst-kritischen Einwürfen. Als Stimme im Ohr. Das ist eine Unterhaltung mit all den Bildern im Kopf. Ob man sie nun gut oder schlecht findet. Nicht nur von Rembrandt, sondern auch von Zeitgenossen, die in derselben Technik arbeiten. Und eine Erinnerung daran, wie Dinge sein könnten.
Das Atelier wird zum Denkraum
Kentridges Möglichkeitssinn ist stärker als ein ästhetischer Kanon oder autoritative Vorbilder. Deshalb wird sein Atelier zum Denkraum. Mag Dürers "Melancholie" unter Kunsthistorikern als klassisches Denk-Bild gelten, hält er sich nicht mit dem Illustrieren von Begriffen oder gar kopflastigen Konzepten auf – sondern geht an die Arbeit. Und dabei wird auch die beste Idee ganz handfest "erwogen". Im Studio zeigt sich die Kluft zwischen der guten Idee und ihrer Ausführung, und zwar beim Sehen und Urteilen. Wenn man nicht auf Effekte bedacht ist, dann zeichnet sich ein Bild ab, das etwas über die Welt aussagt.
Dieses Ineinander von Bilderfindung und künstlerischer Technik, den Entstehungsprozess nachträglich anschaulich zu machen, ist schlicht unmöglich. Aber die Dürer-Kentridge Doppelschau vermittelt eine Ahnung, gibt Anstöße, lässt das eigene Sehen bewusst werden. Und das ist eine Erfahrung, die auf keinem mobilen Endgerät zu speichern, aber einfach in die nächste Ausstellung mitzunehmen ist. Zum Beispiel die Porträts von Goya in der Londoner National Gallery. Diese Transformation des Körpers in Malerei ist zweierlei: Eine Leinwand mit Pinselstrichen. Und die Vorstellung des menschlichen Gesichts. Dieses doppelte Schauen ist das Wesen unseres Blicks auf ein Kunstwerk.

"Double Vision" - Albrecht Dürer und William Kentridge im Kupferstichkabinett Berlin, bis 6. März 2016

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