"Dort müssen Menschen leben wollen"

Prinz Felix zu Löwenstein im Gespräch mit Joachim Scholl · 26.01.2010
Nach der Katastrophe in Haiti muss nach Ansicht des Agrarökonomen Prinz Felix zu Löwenstein die Chance ergriffen werden, dem Land grundsätzlich zu helfen. Als Beispiele nannte er den Bau erdbebensicherer Häuser und den Einsatz von Solartechnik.
Joachim Scholl: Wie ist Haiti zu retten? Angesichts von bald 150.000 Toten, einer völlig zerstörten Hauptstadt und weithin verwüsteter Landstriche sei die Aufgabe unvorstellbar, wie es der kanadische Ministerpräsident Stephen Harper gestern formulierte. In Kanada sind die Außen- und Finanzminister zahlreicher Staaten zusammengekommen, um eine Geberkonferenz vorzubereiten und über den Wiederaufbau von Haiti zu beraten. Einer, der die ökonomischen und ökologischen Verhältnisse dort gut kennt, ist der Agrarökonom und Landwirt Prinz Felix zu Löwenstein. Er hat in den 1980er-Jahren als Entwicklungshelfer in Haiti gearbeitet, jetzt ist er bei uns im Studio. Guten Tag, Herr zu Löwenstein!

Prinz Felix zu Löwenstein: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: Was muss jetzt nach der Linderung der gröbsten Not als Erstes geschehen, dass ein Wiederaufbau in Gang kommt?

zu Löwenstein: Ja, es kommt ja noch mal eine Phase jetzt dazwischen, nämlich die, wo es darum geht, ziemlich dauerhafte Unterkünfte für die Menschen aus Port-au-Prince zu finden, weil ja nicht zu erwarten ist, dass das sehr schnell gehen kann, dieser Aufbau. Und da man Zeltstädte nicht mitten in die Ruinen stellen kann, muss das außerhalb von Port-au-Prince geschehen. Ich weiß, dass in den kleineren Städten, entfernter von der Hauptstadt, wo das Erdbeben keine Schäden angerichtet hat, schon jetzt große Mengen an Flüchtlingen angekommen sind, für die es dort gilt, Unterkünfte zu schaffen.

Scholl: Haiti war schon vor der Katastrophe eines der ärmsten Länder der Welt, und das hatte vor allem auch mit einer fehlgeleiteten Landwirtschaft zu tun. Sie haben diese Verhältnisse in den 1980er-Jahren selbst erlebt, Herr zu Löwenstein, was war das für eine Situation?

zu Löwenstein: Schon damals war Haiti in einem ökologisch ziemlich deströsen Zustand. Man muss sich vorstellen, das ist ein Land, das ist so groß wie Belgien, dichter bevölkert wie Belgien und bergiger als die Schweiz. Und die allermeisten Menschen leben von der Landwirtschaft, das heißt, die bewirtschaften dort zu einem großen Teil Flächen, die eigentlich viel zu steil sind, um bewirtschaftet zu werden. Dann haben Sie die starken tropischen Niederschläge, und das führt dazu, dass das Erdreich ins Meer schwimmt. Das ist etwas, was man von oben immer schon hat bewundern können. Wenn man mit dem Flugzeug angeflogen ist, waren um die Flussmündungen herum riesige braune Flecken, und man kann das desaströse Ergebnis in den Bergen sich anschauen: keine Erde mehr, kein Bewuchs und damit eine immer, immer größere Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten und immer geringere Fähigkeit, selber Lebensmittel zu erzeugen.

Scholl: Nun hört man auch, dass es vor allem auch so ungeklärte Eigentumsverhältnisse dort herrschten, dass also die Bauern auch irgendwie über ihren Besitz gar nicht recht verfügten und deshalb wenig motiviert waren.

zu Löwenstein: Ein Grundproblem von Gesellschaften wie der haitianischen ist die mangelnde Rechtsunsicherheit, und was immer Sie an wirtschaftlicher, dauerhafter Entwicklung in Gang setzen wollen, verlangt nach Rechtssicherheit. Die ist dort nicht gegeben. Und wenn Sie von einem Bauern erwarten, dass er durch Maßnahmen wie das Bauen von Mäuerchen oder gar Anlegen von Terrassen, aber auch das Pflanzen von Bäumen sein Stück Land in höheren Wert setzt, dann muss er über dieses Land mit einem guten Eigentumstitel verfügen können. Wenn er das nicht tut, dann ist es ja geradezu, als würde da ein Schild hängen: Stehl es mir, es ist mehr wert! Und das ist einer der wesentlichen Gründe, warum in dieser Hinsicht dort so wenig passiert ist.

Scholl: Sie waren drei Jahre im Land, was haben Sie konkret gearbeitet, welche Projekte waren das?

zu Löwenstein: Ich war in einer der wenigen Ebenen dort tätig. Dort hat man ein Bewässerungssystem, was schon sehr, sehr alt war, wieder aufgebaut. Meine Aufgabe war, mit den Bauern Organisationsstrukturen aufzubauen, die zur Verwaltung dieses Bewässerungssystems da waren, was eine sehr spannende Aufgabe war. Es ging um 5000 Bauern, die da in irgendwelche Selbstverwaltungsstrukturen zu bringen waren, die waren auch alle furchtbar motiviert. Aber auch da ist es so, wenn Sie keine Rechtssicherheit und keinen funktionierenden Staat haben, dann ist eine so komplizierte Aufgabe wie das Zuteilen des knappen Gutes Wasser etwas kaum zu Bewältigendes. Es war eigentlich spannend, dass trotzdem relativ viel entstanden ist.

Scholl: Seit Jahrzehnten ist Haiti auf Entwicklungshilfe angewiesen, das Land kann sich schon lange nicht selbst versorgen, Sie haben selbst uns jetzt auch gerade die Gründe ein wenig dargelegt. Nun sprechen all die Politiker, alle davon, dass man Haiti nun in diese Lage versetzen muss, eine nachhaltige Ökonomie und Landwirtschaft aufzubauen. Also ich meine, so, wie Sie die Verhältnisse aber schildern, klingt diese Absicht, diese Forderung ja wie ein schlechter Witz.

zu Löwenstein: Na ja, ich glaube nicht, dass irgendeine Situation es rechtfertigen würde, die Flinte ins Korn zu werfen. Natürlich gibt es in Haiti etwas Positives aufzubauen, und wenn es nicht gelingen würde, aus dieser schauerlichen Situation jetzt eine positive Wendung zu machen, wenn man das nicht versuchen würde, das wäre ja noch viel furchtbarer. Und ich glaube auch, dass das möglich ist, man wird nur paar Dinge beobachten müssen, beachten müssen. Es geht zum Beispiel damit los, wenn jetzt – und das ist erforderlich – große Mengen von kostenloser Nahrung ins Land kommen, dann muss dafür gesorgt werden, dass gleichzeitig die Produktion der Bauern aufgekauft wird. Weil wenn man das nicht macht, vernichtet man deren Existenz sozusagen im Vorbeigehen noch mehr – eine Übung, die wir im Übrigen in der Dritten Welt mit unseren Überschüssen seit Jahrzehnten schon oft gemacht haben –, das darf sich dort nicht wiederholen.

Scholl: Der Wiederaufbau in Haiti, eine Mammutaufgabe. Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist der Agrarökonom und Ökolandwirt Prinz Felix zu Löwenstein. Wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Löwenstein, war also aber auch die Entwicklungshilfe, die ja doch stets geleistet wurde, im Grunde eigentlich ein Fehlschlag, weil sie aufgrund der Verhältnisse gar nicht fruchten konnte.

zu Löwenstein: Wenn man in einer Situation wie Haiti arbeitet – und das gilt für die, die im Moment dort Hilfe leisten, erst recht – und tut es unter dem Anspruch, ich möchte die Probleme des Landes lösen, ich möchte jetzt einfach das Gesamte lösen, dann muss man eigentlich alles hinwerfen und wieder weggehen. Was man aber tun kann, ist einen Perspektivwechsel vornehmen und sagen, ich bin jetzt da, um an der Stelle, wo ich gerade bin, mit den Menschen, die ich gerade vor mir habe, in der Situation, in der sie leben, eine Besserung herbeizuführen. Und das kann gelingen und das rechtfertigt alles. Dass in vielen Fällen ganz falsche Dinge getan worden sind in der Entwicklungshilfe, in Haiti ganz besonders, steht völlig außer Frage. Ein Grund, warum ich mich in der kirchlichen Entwicklungshilfe sehr wohlgefühlt habe, ist, weil das in einem Kontext stattfindet, wo man Strukturen hat, die seit Jahrzehnten, in dem Fall sogar seit Jahrhunderten verwurzelt sind, und wo man nicht sozusagen wie mit dem Fallschirm ankommt, irgendwas macht und dann wieder weggeht, sondern wo man in etwas Dauerhaftes hineinkommt. Natürlich ist auch da nicht alles Gold, was glänzt, aber die Voraussetzungen sind sehr viel besser.

Scholl: Sie haben vorhin von den mangelnden staatlichen Strukturen gesprochen oder auch von den nicht funktionierenden Strukturen. Halten Sie es denn für denkbar oder realistisch, dass nun, also nach der Katastrophe, solche Strukturen entstehen könnten, die die Situation grundsätzlich verbessern?

zu Löwenstein: Das ist eine mindestens genauso langfristige und anspruchsvolle Aufgabe wie das Wiederherstellen von Gebäuden und Infrastruktur, und deswegen ist es völlig richtig, dass man jetzt in großem Umfang Polizei und auch Soldaten dort zur Verfügung stellt, die die Dinge erst einmal einigermaßen stabilisieren. Und dann wird man wieder aufbauen müssen, diese Strukturen. Das ist schwer, weil es haben ja auch viele Leute ihr Leben gelassen, die für das Land dort wichtig waren, auch aus der Elite. Jeder, der an diesem Tag um 17 Uhr im Büro saß, ist potenziell erschlagen worden. Und deswegen ist diese Aufgabe riesig, aber sie ist eben auch die zentrale Aufgabe, weil wenn das nicht gelingt, ist alles Materielle, was passiert, umsonst.

Scholl: Nun fließen ja Hunderte von Millionen Euro. Die Weltpolitik fühlt sich in der Pflicht. Die Öffentlichkeit ist sensibilisiert, Tausende von Helfern und Experten sind am Ort. Noch vor zwei Wochen, muss man ja böse sagen, hat kein Hahn nach Haiti gekräht. Das soll jetzt bestimmt nicht zynisch klingen, aber Herr zu Löwenstein, ist vielleicht nicht jetzt noch täglich die beste Chance, vielleicht Haiti wirklich substanziell grundsätzlich zu helfen?

zu Löwenstein: Natürlich, das ist die Chance, die man jetzt ergreifen muss. Es stimmt nicht ganz, was Sie sagen, weil auch schon vorher Haiti ziemlich im Zentrum von Entwicklungshilfebemühungen war, man hat es halt bloß in der Öffentlichkeit nur dann wahrgenommen, wenn dort wieder ein Zyklon drübergerauscht ist. Aber natürlich ist diese Situation jetzt gegeben. Ich möchte nur drauf hinweisen, dass selbst, wenn wir von vielen hundert Millionen Euro sprechen, angesichts dessen, was da zu tun ist, müssten wir über viele Milliarden sprechen. Dort sind Werte, auch in einem armen Land sind Werte, die über ein Jahrhundert oder zwei Jahrhunderte erstellt worden sind, nicht innerhalb von zwei Jahren mit der Portokasse wiederherzustellen.

Scholl: Wenn man Sie anriefe und um Rat bäte, Herr zu Löwenstein, im Rahmen eines internationalen Projekts – wir bauen Haiti auf, aber richtig –, was würden Sie vorschlagen?

zu Löwenstein: Ich habe mir über diese Frage in der Tat Gedanken gemacht. Der erste Punkt ist, wir müssen dringend Mechanismen einrichten, die dafür sorgen, dass die Landwirtschaft dort nicht zerstört wird. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt muss heißen: Vorher muss besser werden als nachher. Das heißt, wenn man wieder aufbaut, muss man erdbebensicher bauen, man muss Solartechnik einsetzen, man muss Zisternen bauen, um Strom- und Wasserknappheit begegnen zu können. Man muss diese Stadt auch wieder schön bauen, dort müssen Menschen leben wollen, das darf keine graue Betonwüste werden. Denn schon jetzt ist der Drain an Köpfen, der woanders hingeht, aus Haiti erschreckend groß, gerade jetzt in diesem Kontext. Alles das – da gibt es noch eine ganze Latte von Punkten – wären zu berücksichtigen, und ich habe nicht nur große Lust, dort mich einzubringen, sondern ich bin in engem Kontakt mit dem Malteser Hilfsdienst, der dort stark sich engagiert. Und ich denke, dass mich diese Aufgabe auch in den nächsten Wochen und Monaten nicht loslassen wird.

Scholl: Haiti wiederaufbauen! Das war der Agrarökonom und Landwirt Prinz Felix zu Löwenstein. Einen schönen Dank für Ihren Besuch und das Gespräch, alles Gute für Sie!