Donald Runnicles bei der Sächsischen Staatskapelle

Aufgeknöpftes England

Die Komponistin Sofia Gubaidulina
Sofia Gubaidulina ist Capell-Compositrice in Dresden © imago / Leemage
10.03.2017
Ein Konzert für das Knopfakkordeon Bajan und Orchester der Capell-Compositrice Sofia Gubaidulina und drei britische Repertoirehits dirigierte Donald Runnicles bei der Sächsischen Staatskapelle in Dresden.
Mit diesem Werk hat Ralph Vaughan Williams der komplexbeladenen britischen Musikwelt neue Hoffnung gegeben - die Fantasie auf ein Thema des Renaissance-Komponisten Thomas Tallis war endlich mal wieder ein bahnbrechendes Orchesterstück eines einheimischen Komponisten, der sich darin zudem noch auf einheimisches Material stützte. Zuvor hatten die einflussreichen Musikfreunde auf der Insel stets auf Importe gesetzt. Die kamen entweder aus Italien oder aus dem deutschsprachigen Raum - einer der berühmtesten englischen Komponisten bis heute ist schließlich der Hallenser Georg Friedrich Händel. Aber auch Haydn und Mendelssohn Bartholdy fühlten sich sehr wohl in London. Enorm war später dann auch die Sympathie, die man dem Tschechen Antonín Dvořák entgegenbrachte.
Das gesamte 19. Jahrhundert lang schienen die britischen Musiker und Komponisten der Hegemonie der Kunst "vom Kontinent" überlassen zu wollen. Da kamen Edward Elgar und Ralph Vaughan Williams und retteten die Ehre der einheimischen Musik. Allerdings war das 20. Jahrhundert schon angebrochen, als die Werke der beiden entstanden, die die Staatskapelle Dresden im zweiten Teil dieses Konzertabends gespielt hat, der vergangene Woche in der Semperoper stattfand. Dieses Programm unter Leitung des schottischen Dirigenten Donald Runnicles, der Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin ist, endete mit der Konzertouvertüre "In the South" von Edward Elgar. In ihrer Liebe zu Italien (zu Landschaft, Leuten und Essen und nicht zuletzt der Musik) wollten die Komponisten von der Insel sich nicht von ihren Kollegen aus Russland, Deutschland oder Finnland übertreffen lassen.
Ein wahrlich großer Geist der Musik des 20. Jahrhunderts war Benjamin Britten. Von seiner Kreativität zehrt die Musikwelt bis heute - und wahrscheinlich hätte er sich ob der isolationistischen Tendenzen der englischen Politik heutzutage gegruselt. Er war Pazifist, bekennender Homosexueller und Internationalist - dabei hat er in seiner Musik urenglische Themen aufgegriffen. Im US-amerikanischen Exil während des 2. Weltkrieges komponierte er seine "Heimat"-Oper Peter Grimes, aus der die "Four Sea Interludes" stammen. Diese "Orchestersuite" eröffnete den überwiegend englischen Konzertabend.
2009 komponierte die im Hamburger Umland lebende Komponistin Sofia Gubaidulina ihr Konzert für Bajan, Schlagzeug und Streichorchester. Das Stück trägt den Titel "Fachwerk". Darin versucht die inzwischen 85 Jahre alte Künstlerin eine Verbindung von architektonischen Prinzipien und religiösen Symbolen (das Andreaskreuz ist ein Bauteil des Fachwerks) mit den Klangeigenschaften des osteuropäischen Knopfakkordeons Bajan: "Ein Musikinstrument gibt es in der Tat, mit dem man diese Idee verwirklichen könnte. Es ist der Bajan, auf dem man die Tastatur aus dem melodischen in den akkordischen Modus umschalten kann." Das sagte Sofia Gubaidulina zur Genese ihres Konzerts, das sie für den Bajan-Virtuosen Geir Draugsvoll geschrieben hat. Der Musiker stammt allerdings nicht aus Osteuropa, sondern aus Norwegen und ist Professor für sein Instrument an der Königlichen Musikakademie in Kopenhagen.
Das Bajan hat zwei Knopfklaviaturen statt der ansonsten üblichen Klaviertasten auf der einen und der Knöpfe auf der anderen Seite. Da Knöpfe weniger Platz brauchen als Klaviertasten, kann auf einer Bajan-Tastatur ein wesentlich größerer Tonumfang erzielt werden. Andererseits können auch die Töne der tiefen Lagen einzeln erklingen, ohne den sonst üblichen akkordischen Beiklang (nicht umsonst heißt die Instrumentengattung ja Akkord-eon). Die Komponistin macht sich diese Ambivalenz des Bajan zunutze: "In meiner Komposition für Bajan, Schlagzeug und Streicher habe ich versucht, diese Eigenschaft des Instruments in den kadenzierenden Momenten einer Variationsform aufzuzeigen. In einem der wichtigsten Abschnitte jedoch klingt die Akkordfolge der im Akkordmodus gespielten Klaviatur gleichzeitig mit ihrer melodischen Variante. Und hier könnte ich ohne Übertreibung sagen: Diesen Abschnitt hat das Instrument selbst komponiert." Das klingt kompliziert, doch Sofia Gubaiduina ist für die emotionale Zugänglichkeit ihrer Musik bekannt, nicht zuletzt in der Landeshauptstadt Dresden, wo sie in dieser Saison bereits zum zweiten Mal den Titel "Capell-Compositrice" trägt.
Semperoper Dresden
Aufzeichnung vom 3. März 2017
Benjamin Britten
"Four Sea Interludes" op. 33a
Sofia Gubaidulina
"Fachwerk" für Bajan, Schlagzeug und Streichorchester
Ralph Vaughan Williams
Fantasie auf ein Thema von Thomas Tallis
Edward Elgar
"In the South" (Alassio) Konzert-Ouvertüre op. 50

Geir Draugsvoll, Bajan
Sächsische Staatskapelle Dresden
Leitung: Donald Runnicles