Diskussionen im Schauspiel Frankfurt

In welchem Europa wollen wir leben?

Oper und Schauspiel in Frankfurt am Main (Hessen), aufgenommen am 09.12.2013.
Oper und Schauspiel in Frankfurt am Main © picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt
Von Ludger Fittkau · 11.02.2017
Im Schauspiel Frankfurt ging es unter dem Motto "Erfindung Europa" um eine Wiederbelebung der europäischen Idee. Mit dabei: der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit, der Soziologe Dirk Baecker oder der Ökonom Marcel Fratscher.
Europa denkt seit Jahrhunderten kritisch über sich nach. Spätestens, seit die sogenannte "neue Welt" entdeckt worden ist oder seit es die Rede vom Okzident versus Orient gibt. Eigentlich sei seit den Zeiten Hegels schon alles über Europa gesagt worden, so der Soziologe Dirk Baecker heute in einem furiosen Vortrag zur Ideen-Geschichte des Kontinents. Das Publikum im vollbesetzten Chagall-Saal des Schauspielhauses Frankfurt am Main bekam eine Kostprobe des originellen Denkers von der Universität Witten/Herdecke:
"Man kann auch sagen: Europa ist zu Tode reflektiert worden. Man kann auch vermuten mit Hegel: Die Reflektion, desto intensiver sie ist, desto mehr zieht sie den Gegenstand, der sich da reflektiert oder reflektiert wird, den Boden unter den Füßen weg."

Unbehagen angesichts des Souveränitätsverlusts der Staaten

Doch nicht die Reflexionen ziehen Europa aktuell den Boden unter den Füßen weg. Sondern neo-nationale Bewegungen von rechts und links in fast allen Ländern der Europäischen Union und darüber hinaus. Dirk Baecker betont, dass diese Bewegungen die Brüsseler Demokratiedefizite schonungslos aufzeigen. Das Unbehagen über die Souveränitätsverluste der Nationalstaaten gegenüber intransparenten, supranationalen Institutionen müsse ernst genommen werden - bis hin zu Mängeln der europäischen Sicherheitspolitik:
"Haben wir möglicherweise mit den europäischen Demokratiedefiziten eine Situation erreicht, in der wir weder international noch national über das Gewaltmonopol entscheiden können? Josef Vogl macht das im Gespräch mit Alexander Kluge sehr deutlich, dass Europa im Moment ein Kontinent ist, der über Krieg und Frieden nicht entscheiden kann, und damit sind wir natürlich politisch machtlos."
Der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit.
Der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit. (Archivaufnahme)© afp/Huguen
Der Publizist und Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit plädierte deshalb im Frankfurter Schauspielhaus für die Bildung einer schlagkräftigen europäischen Armee mit 350.000 Soldaten.

"Europäische Agentur" soll Flüchtlinge auf Regionen verteilen

Bei der Flüchtlingsfrage zeigte Cohn-Bendit auf, dass man die Weigerung etwa Ungarns und Polens, Flüchtlinge aufzunehmen, mit einer Stärkung des alten Gedankens des "Europa der Regionen" begegnen könnte. Statt auf eine Zwangsverteilung der Flüchtlinge auf dem Kontinent solle man auf eine mit Geld unterfütterte "Europäische Agentur" für Flüchtlinge setzten, für die aufnahmebereite Städte und Regionen auch in den Nachbarländern gewonnen werden könnten:
"In Polen Posen, in Ungarn Budapest – mehrheitlich, hätten sich dafür entschieden. Das heißt: Sie hätten eine nationale Glocke durchbrochen, durch Städte, Kreise, Gemeinden. Zum Beispiel auch an der Grenze Frankfurt/Oder und so weiter. Die bereit gewesen wären. Das Gleiche für Frankreich. Frankreich hat gesagt, wir wollen keine Flüchtlinge. Dann mussten sie Calais auflösen. Und plötzlich haben Gemeinden, Landkreise und Dörfer gesagt, wir sind bereit diese Flüchtlinge aus Calais aufzunehmen. Es gab dann nicht genügend Flüchtlinge, um sie aufzunehmen."

Wie nachvollziehbar ist Europaverdrossenheit?

Daniel Cohn-Bendit stritt sich bei einer Podiumsdiskussion im Theater mit dem Journalisten Jakob Augstein, dem Ökonomen Marcel Fratzscher sowie dem Politologen Werner Weidenfeld vor allem um die Frage, wie weit man Verständnis für die verunsicherten Anhänger von Neo-Nationalisten wie Le Pen oder Höcke haben solle. Augstein hatte argumentiert, dass es doch auch eine nachvollziehbare Europaverdrossenheit sei, die Höcke und Co die Säle fülle:
"Interessant ist, dass ganz, ganz viele Leute, eine wachsende Zahl von Menschen gibt, die sagen: Nö, wir brauchen das überhaupt nicht. Das mit Frieden und Krieg, das kriegen wir anders hin. Wirtschaftlich haben irgendwelche Reichen und Eliten davon profitiert, viele Menschen haben nicht profitiert."
Cohn-Bendit hielt scharf dagegen. Die Neo-Nationalen seien für ihn nur ein kleiner Ausschnitt der Stimmung in Deutschland. Mindestens genauso aussagekräftig seien für ihn die vielen jungen Studierenden, die sich jedes Jahr mit dem "Erasmus"-Austausch-Programm der EU ins Ausland aufmachen und sich dort verlieben:
"Wenn wir eine Erzählung haben und sagen: Europa hat eine Zukunft, dann werden die Le Pens, die Alternative für Deutschland keine emotionale Chance mehr haben. Wenn wir aber nur über Europa diskutieren und sagen: Aber ich habe Kopfschmerzen, mein Knie tut mir weh und das tut mir weh, dann sagen die Leute, dann bleibe ich lieber in Deutschland, da tut mir eh alles weh."
Mehr zum Thema