Dirk von Gehlen: "Meta!"

Wie geht "digitale Mündigkeit"?

So genannte Emoticons bei Facebook: Viele Nutzer bekunden mit einem Klick darauf ihre Meinung über das, was sie gerade gelesen haben.
So genannte Emoticons bei Facebook: Viele Nutzer bekunden mit einem Klick darauf ihre Meinung über das, was sie gerade gelesen haben. © imago/Christian Ohde
Von Tabea Grzeszyk  · 07.02.2017
Gefällt mir, gefällt mir nicht. In sozialen Netzwerken gibt es so gut wie keine Inhalte ohne Wertung. Doch wenn wir zuerst wahrnehmen, wie andere etwas wahrnehmen, was macht das dann mit uns? In "Meta! Das Ende des Durchschnitts" sucht Dirk von Gehlen nach Antworten.
"Alles ist nur halb so beschissen, wenn die Sonne scheint". Anschaulicher als mit dieser Liedzeile ließe sich die Relevanz des Kontextes kaum illustrieren: Wie wir die Welt sehen, hat nicht nur damit zu tun, ob wir in München oder Macau aus dem Fenster blicken, sondern in welchem Kontext wir das tun – eine Frage der "Metadaten" also.

Gewohnt klug und unterhaltsam skizziert Dirk von Gehlen die digitale Ökonomie des 21. Jahrhunderts, in der Kontexte wichtiger geworden sind als Inhalte. Für ihr florierendes Geschäftsmodell müssen Google oder Facebook nicht wissen, welche Inhalte wir produzieren, solange sie sehen, wem diese gefallen.

Für eine datengetriebene Aufklärung

Dabei geht es von Gehlen nicht darum, vor den Gefahren von Big Data und der massenhaften Auswertung nutzergenerierter Daten zu warnen – nein: Er fragt kulturpragmatisch nach den Bedingungen für eine "Datensouveränität" und "digitale Mündigkeit". Diese könnten nicht das Ergebnis eines individuellen Datenverzichts sein, sondern ein tiefergehendes Verständnis der Digitalisierung, eine datengetriebene Aufklärung.
Der Autor sieht in der Segmentierung und Personalisierung des 21. Jahrhunderts das "Ende des Durchschnitts" und der Massenkommunikation gekommen, bei der sich eine Botschaft an alle richtet und dabei immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner bedient. Etwa wenn im Radio die Staumeldungen jeden erreichen – unabhängig davon, ob man gerade im Auto sitzt oder nicht. "Das Ende des Durchschnitts beschreibt den Übergang von der Lautsprecher- zur Kopfhörer-Kultur", schreibt von Gehlen. Die Frage dabei ist: Wer bestimmt die Playlist?

Buch, PDF, PowerPoint: Ein Inhalt, viele Formate

In sechs Kapiteln und ebenso vielen Interviews über "personalisierte Mobilität" und Medizin, Datennutzung im Sport und in der Politik lotet Dirk von Gehlen die Bedingungen und Möglichkeiten einer datenbasierten, kontextgetriebenen und post-durchschnittlichen Welt aus. Den Autor selbst führt das Thema zu einem Experiment: Er macht seine Gedanken in verschiedenen Formaten verfügbar. Als gedrucktes Buch, als PDF oder PowerPoint-Präsentation, als E-Book und Podcast. Oder als Komplettpaket inklusive aller Versionen, mit Einladung zur Buchveröffentlichung in Berlin. Der Inhalt wird in verschiedene Produkte verpackt, zugeschnitten auf die personalisierten Vorlieben des Lesers/Konsumenten.

Wenn im 21. Jahrhundert Kontexte wichtiger sind als Inhalte – was heißt das, auch für eine Buchkritik? Welche Autorität hat meine persönliche Einschätzung, wenn diese Rezension mit den Zeilen endet:
"Ein kurzweiliges, kluges und äußerst lesenswertes Buch, das jenseits von Alarmismus die Logik der Digitalisierung verstehen hilft, doch bei allem Optimismus auch ein Fragezeichen hinterlässt: Ist es wirklich klug, den 'Durchschnitt' abzuschaffen und alle Lebensbereiche zu personalisieren? Oder könnte es sich lohnen, zumindest an der Utopie eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses festzuhalten, an dem sich alle beteiligen können und der für alle gleich ist?"
Diese Frage habe ich an Freunde, Kollegen und den Autor selbst geschickt – mögen die Metadaten entscheiden!

Dirk von Gehlen: Meta! Das Ende des Durchschnitts
Matthes & Seitz, Berlin 2017
180 Seiten, 15 Euro

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