Diplomatie um Syrien

Orient hält Europa im Griff

Eine zerstörte Straße im syrischen Kobane
Eine zerstörte Straße im syrischen Kobane © Deutschlandradio Kultur / Alexander Bühler
Von Konstantin Sakkas · 10.12.2015
Schon 1815 auf dem Wiener Kongress habe Europa das Thema "Orient" ausgeklammert und sei mitverantwortlich geworden für den Dauerkonflikt "Nahost", meint der Historiker Konstantin Sakkas. Nun müsse die Region endlich selbstständig werden.
Das Jahr 2015 hat alte Konflikte zurückkehren lassen. Der Orient erweist sich als Pulverfass. Die Regionalmächte sind zerstritten. Sie schüren einen Bürgerkrieg im Irak und in Syrien. Hunderttausende fliehen vor dem Furor nach Europa.
Hoch bewaffnete Islamisten wähnen sich zugleich in einem traditionellen Kampf gegen den christlichen Norden. Sie schießen einen russischen Ferienflieger ab und beauftragen Attentate auf Pariser Bürger.
Und auch Russland gerät mit Europa und USA auf fremdem Territorium aneinander – nach dem überholt geglaubten Muster der Ost-West-Konfrontation. Historisch gesehen, weckt dieses Szenario ungute Erinnerungen, aber auch Hoffnung auf Verständigung.

Kulturen rücken näher, Spannungen bleiben

Nach dem Ende des Kalten Krieges glaubten sich viele dem Frieden, der Abrüstung und der Demokratie näher als zuvor – und irrten sich. Insoweit war die Geschichte eben nicht zu Ende. Das aber sollte kein Grund sein, das wertvollste Ergebnis des Jahres 1990 zu verkennen, dass Menschen und Kulturen über politische und ideologische Grenzen hinweg zusammenzurücken begannen.
Russland und USA bilden mittlerweile die Pole eines euroatlantischen Kulturraumes. Sie leben einen autoritären Liberalismus, der hier den Staat, dort die Märkte dominieren lässt. Gemeinsamkeiten sind unübersehbar – nicht zuletzt im religiös-missionarischen Anspruch betont nationaler Politik.
Historische und wieder akute geopolitische Kampfzone ist das Gebiet des griechischen Alexanderreiches, auf dem sich später persischer und arabischer Islam ausbreiteten und Ost- wie West-Rom in Schranken wiesen. An dessen westlichem Rand standen sich vor 160 Jahren das Russische Kaiserreich und das British Empire gegenüber.

Schon 1815 war Nahost ein ungelöster Konflikt

Einerseits zerstörte der Krimkrieg von damals die Friedensordnung des Wiener Kongresses von 1815, die von allen Souveränen Europas als Antwort auf die Feldzüge Frankreichs unter Napoleon garantiert wurde - mit Ausnahme Englands, des Papstes und des Osmanischen Reiches.
Andererseits entstand im Windschatten der russisch-britischen Auseinandersetzung das Deutsche Reich. Und seither profitiert Deutschland von seiner Mittellage zwischen den europäischen Mächten – trotz zweier verlorener Weltkriege und nationalsozialistischer Schuld.
Wenn also Francois Hollande, politisch getroffen durch die Pariser Terroarnschläge, sich nicht nur mit Barack Obama, sondern auch mit Wladimir Putin abstimmt über ein militärisches Vorgehen im Luftraum über Syrien, dann bewegt er sich in guter europäischer Tradition. Denn Frankreich, Russland und Deutschland sind Akteure europäischer Kontinentalpolitik seit den Tagen Friedrichs des Großen, seit Mitte des 18. Jahrhunderts.
Freilich hatte Fürst Metternich, der Spiritus Rector des Wiener Kongresses, bewusst den Orient nicht auf seine Agenda gesetzt. Noch saß ja ein Sultan in Konstantinopel, wenn auch seine Macht bröckelte. Es ist ein Versäumnis, das den modernen Nahostkonflikt verursacht hat. Und es ist eine typisch eurozentristische Sicht, dieses Versäumnis weniger im Bewusstsein gehabt zu haben, als die Schlachtfelder von Verdun und Stalingrad.
Orient muss wieder souverän werden
Was also heute tun? Es empfiehlt sich, den Völkern des Orients ihre eigene nationale Souveränität wiederzugeben. Syrer, Ägypter, Palästinenser sehen sich als Nachfahren antiker Großreiche, denen das barbarische Europa seine Zivilisation verdankt. Auf dieses Selbstverständnis müssen Russen, Europäer und Amerikaner eingehen.
Geben wir dem Orient seine Selbständigkeit zurück! Dann dürfte dort wieder Frieden einkehren - und mit ihm der Terror beendet werden, der die einheimische wie die europäische Bevölkerung bedroht. Die monotheistischen Religionen, die in dieser Region entstanden, waren stets Reaktion auf Armut und Not. Diese aber die Folge politischer Unselbständigkeit.

Konstantin Sakkas, Jahrgang 1982, schloss 2009 das Studium in den Fächern Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin ab. Er arbeitet seit mehreren Jahren als freier Autor für Presse und Rundfunk.




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