Dilek Kolat: "Ein Verbot der NPD ist ein Muss"

Moderation: Patrick Garber und Martin Steinhage · 31.03.2012
Dilek Kolat, die Berliner Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen, hat sich für ein neues NPD-Verbotsverfahren ausgesprochen. Die SPD-Politikerin erklärte, erklärte, dass das Land Berlin seine Hausaufgaben mit Blick auf ein NPD-Verbotsverfahren bereits gemacht habe.
Deutschlandradio Kultur: Wir sind heute zu Gast bei der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, unsere Gesprächspartnerin ist die Hausherrin, Dilek Kolat. Frau Kolat, seit gut vier Monaten sind Sie die erste Berliner Senatorin mit Migrationshintergrund. Sind die Erwartungen an eine Frau mit türkischen Wurzeln, die nun in der Landesregierung unter anderem für das Thema Integration zuständig ist, besonders hoch?

Dilek Kolat: Es werden keine Wunder von mir erwartet, was ich als sehr erleichternd empfinde. Das hat was damit zu tun, weil Berlin schon sehr lange sich um Integration kümmert. Das passiert nicht erst mit einer türkischstämmigen Senatorin. Aber die Erwartungshaltungen sind insofern schon da, dass man schon guckt, was passiert jetzt an neuen Ansätzen in der Stadt. Und was ich als sehr positiv empfinde, ich werde als Vorbild genommen – sowohl von vielen Berlinerinnen und Berlinern, die sagen, ja, sie hat es geschafft, sich zu integrieren, aus schwierigen Bedingungen heraus sich weiterzuentwickeln. Und das Allerschönste ist, dass gerade junge Migrantinnen und Migranten mich als Vorbild sehen. Da habe ich sehr positive Rückmeldungen.

Deutschlandradio Kultur: Welche ganz persönlichen Erfahrungen haben Sie mit dem Thema Integration gemacht? Sie haben es ja eben schon angedeutet, es war nicht ganz einfach. Wie war es?

Dilek Kolat: Es ist schon ganz schwierig, wenn man als Kind kaum Deutsch kann, in die Schule kommt und merkt, da stimmt was nicht, irgendwie sind die Chancen nicht gleich. Damit klarzukommen als Kind und dann vielleicht als Jugendliche, das ist gar nicht so leicht.

Da muss einiges zusammenkommen. Man muss selber sehr mutig sein, man muss selber sehr ehrgeizig sein, man muss Eltern haben, die einen unterstützen, man muss ein soziales Umfeld haben, das auch sieht und was verändern will, man muss sehr stark sein. Und all das zusammen gelingt halt nicht immer.

Deutschlandradio Kultur: In Ihrer bisherigen politischen Laufbahn haben Sie sich vor allem mit Finanzpolitik verfasst, das ist wohl auch Ihre Herzenssache lange gewesen. Und die "Taz" schrieb in einem Porträt über Sie, als Sie ins Amt gekommen sind: Integration ist schlicht nicht Ihr Thema. Ist da was dran oder ist das üble Nachrede?

Dilek Kolat: Ich bin in der türkischen Community politisch groß geworden. Das heißt, ich habe sehr viel in Vereinen und Projekten gearbeitet, ehrenamtlich. So bin ich überhaupt in die Politik gekommen, ich bin nicht als Senatorin in die Politik gekommen.

Dieses zivilgesellschaftliche Engagement beziehungsweise ehrenamtliche Engagement im Bereich Integration, ich habe zum Beispiel in der TU Berlin ein Projekt ins Leben gerufen - Anfang der 90er Jahre -, das nennt sich "Projekt 2. Generation". Da haben junge Akademiker/innen wie ich gesagt, wir haben es bis zur Universität geschafft, aber wir wollen es nicht dabei belassen, sondern wir blicken zurück und wollen Nachwuchs unterstützen. Und haben gesagt, wir machen ein Unterstützungsprogramm für junge Migranten/innen, die zwar in die 11. Klasse gekommen sind, weil die Abbrecherquoten so hoch waren, wir unterstützen sie bis zum Abitur.

Und diese Kurse gibt es immer noch an der TU, worüber ich wirklich sehr, sehr stolz bin. Da sind Tausende von Jugendlichen mit Migrationshintergrund unterstützt worden auf dem Weg zum Abitur. Und wenn man sich so engagiert im Bereich Integration, schon ehrenamtlich, merkt man, eigentlich muss man in die Politik gehen, wenn man wirklich was verändern kann. Aber vielleicht passe ich nicht in das klassische Bild der Migrantenpolitikerin.

Deutschlandradio Kultur: Frau Kolat, wann ist jemand mit nicht deutschen Wurzeln hierzulande integriert, also wann ist Integration wirklich gelungen?

Dilek Kolat: Die Frage nach "wann" stellt sich aus meiner Sicht nicht, kann sich auch gar nicht stellen, weil Integration ist ein Prozess. Das ist kein Punkt, wo man sagen kann, da ist es jetzt erreicht.

Deutschlandradio Kultur: Aber ein Punkt kann ja auch irgendwann abgeschlossen sein.

Dilek Kolat: Das ist ein Prozess. Man kann sagen, der Prozess ist jetzt soweit fortgeschritten, dass man nicht mehr darüber redet, ja, dass Integration irgendwie kein Thema mehr ist, weil sehr viele Menschen mit unterschiedlichen Wurzeln in der Berliner und in der deutschen Gesellschaft leben, gleichberechtigt leben, teilhaben an Bildung, am Erwerbsleben, am kulturellen und gesellschaftlichen Leben. Und irgendwann ist es egal, wo jemand herkommt, weil das eine Normalität ist, und weil alle tolerant sind und das friedliche Miteinander funktioniert.

Dann kann man sagen, dass Integration auch nicht mehr so das große Thema ist. Ich definiere Integration so, dass ich sage, ein Mensch lebt dann integriert, wenn er teilhat an Bildung, teilhat am Erwerbsleben und am gesellschaftlichen Leben. Dann gelingt Integration, aber man kann keinen Zeitpunkt festmachen.

Deutschlandradio Kultur: Vor einigen Wochen gab es ziemlich viel Aufregung um eine Studie, die im Auftrag des Bundesinnenministeriums ausgearbeitet worden ist, eine Studie über Migranten. Darin heißt es unter anderem, knapp ein Viertel der hier lebenden nicht deutschen Muslime sei als streng religiös einzustufen, mit starker Abneigung gegenüber dem Westen. Diese Leute, steht weiter in der Studie, verweigerten die Integration und akzeptierten tendenziell Gewalt. Welche Schlüsse ziehen Sie aus dieser Studie für Ihre Arbeit?

Dilek Kolat: Ich kritisiere diese Studie aus zweierlei Sicht, einmal inhaltlich, dass zum Beispiel der Zusammenhang hergestellt wird zwischen Integration und wie man zu der eigenen Herkunftskultur steht. Integration wird daran festgemacht, wie weit ist man nah an der Herkunftskultur, an der Kultur der Eltern.

Diese Frage zu stellen ist aus meiner Sicht schon fatal, denn wir können nicht als Politik von Menschen erwarten, dass sie ihre Kultur aufgeben. Vor allem – welche Kultur? In der Studie wird ja auch nicht definiert – was verstehen sie unter Kultur.

Ich denke, Politik ist dafür da, eher für mehr Verständnis, mehr für Toleranz und für mehr Kulturverständigung sich einzusetzen, insofern gibt diese Studie da die ganz verkehrten Signale.

Der zweite Punkt ist, wie diese Studie präsentiert worden ist. Da kritisiere ich den Herrn Innenminister Friedrich und auch die zeitliche Nähe zu den Festakten in Bezug auf die Mordserie, zu den Opfern. Da haben wir genau ein Klima in Deutschland gehabt der Versöhnung. Da war eine Nachdenkpause angesagt nach dieser Mordserie. Nach dieser wunderbaren Trauerfeier und die gute Rede von Frau Merkel kommt nach ein paar Tagen diese Studie raus, also ich muss sagen, wirklich taktlos. Und Politik muss sich stellen, welche Signale will ich wann setzen?

Deutschlandradio Kultur: Frau Kolat, was immer wieder auffällt, jetzt unabhängig von der Studie, sondern das fällt sozusagen auch allen auf, die mit sehendem Auge durch die Städte gehen in Deutschland, also nicht nur in Berlin: Es gibt eine Gruppe mit besonderem Problempotenzial – jung, männlich, türkischer oder arabischer Herkunft. Teilen Sie die Auffassung? Und wenn ja, woher kommt das? Warum gerade die?

Dilek Kolat: Es gab auch eine Studie, die hat Jugendliche verglichen - mit Migrationshintergrund und ohne Migrationshintergrund - nach ihren Schulabschlüssen. Wenn Sie Jugendliche ohne Schulabschluss – deutsche und nicht deutsche – vergleichen, dann stellen Sie fest, dass die Kriminalitätsrate ähnlich hoch ist. Vergleichen Sie Abiturienten untereinander, dann werden Sie feststellen, dass die Kriminalitätsrate ähnlich gering ist.

Das heißt, man muss es immer in Relation setzen zu der Bildungs- und sozialen Situation dieser Jugendlichen, dann machen erst Vergleiche Sinn.

Wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund viel, viel stärker in der Arbeitslosigkeit wiederzufinden sind, dann hat das natürlich auch Implikationen, das ist ganz klar. Das heißt, man muss an den Ursachen arbeiten. Und meine These ist: Haben die Jugendlichen die Möglichkeit, gute Schulabschlüsse zu machen, haben die die Möglichkeit, einen Job zu bekommen, dann machen sie auch weniger Probleme.

Deutschlandradio Kultur: Aber sind die Schwierigkeiten im Zusammenleben wirklich nur ein soziales Problem? Ich lebe seit vielen Jahren in Kreuzberg und da habe ich etliche Nachbarjungen groß werden sehen, denen durch ihre Erziehung in den Familien ein Männerbild vermittelt worden ist, übrigens auch ein Frauenbild, das so gar nicht zu unserem Verständnis von Geschlechtern passt, das wir in Deutschland so mühsam entwickeln. Und die ecken natürlich mit diesem Macho-Gehabe überall an. Ist es also auch eine Frage von Mentalitäten, die aufeinander prallen, von Erziehungsstilen?

Dilek Kolat: Zwei Dinge dazu. Erstens toleriere ich ein Frauenbild, ein Rollenbild, was dort vermittelt wird in der Erziehung, absolut nicht, ich bin ja Frauensenatorin. Deswegen bin ich auch unterwegs und sage, ich bin für Gleichberechtigung, ich bin für selbstbestimmtes Leben von jungen Frauen, jungen Migrantinnen und Migranten.

Meine Beobachtung ist, dass das meistens auch ein bisschen Schutzverhalten dieser Jugendlichen ist, weil sie sich nicht dazugehörig fühlen, weil sie sich abgrenzen, ausgrenzen. Und sie wissen ganz genau, dass sie mit diesem Macho-Gehabe auch provozieren. Und sie wollen ja auch provozieren, und deswegen das so richtig aufsetzen, auch bewusst aufsetzen und auch einsetzen, um sich auseinanderzusetzen mit dem Umfeld.

Deutschlandradio Kultur: Frau Kolat, es war dieser Tage zu lesen, Sie wollen die Eltern von lernschwachen Schülern stärker in die Pflicht nehmen. Klingt schön und gut, nur – wie soll das geschehen?

Dilek Kolat: Da gibt es schon Ansätze in Berliner Grundschulen. Das sollte man viel stärker verbreiten. Beispielsweise bei der Anmeldung kann man mit den Eltern eine Vereinbarung abschließen. Eine schriftliche Vereinbarung, wo fixiert ist, schriftlich fixiert ist, was sind die Pflichten der Schule, der Lehrerinnen und Lehrer, man darf ja die Schule auch nicht aus der Pflicht lassen, wenn man einiges verändern will, aber auch was die Pflichten oder der Beitrag der Eltern sind, damit Bildungserfolg der Kinder gelingen kann.

Und so eine Vereinbarung kann man nehmen als Instrument, um dann immer wieder daran zu erinnern oder daran zu arbeiten und systematisch Elternarbeit zu machen und zu sagen, wie wollen sie dazu beitragen? Sozusagen als Hilfsmittel. Und da gibt es auch gute Ansätze, die muss man viel mehr einsetzen.

Es gibt Schulen, die sagen, wir sind nicht sehr weit gekommen, die Eltern kommen nicht in die Elternabende, die beteiligen sich nicht am Schulleben, sie kümmern sich nicht um Bildung ihrer Kinder. Und es gibt aber auch Schulen, die sind kreativ. Die wissen, wie sie an die Eltern mit Migrationshintergrund rankommen. Sie haben Pädagogen, die die Sprache kennen, die Kultur kennen. Die haben sich wirklich was einfallen lassen und die sagen, die Eltern machen richtig gut mit.

Und es gibt auch Projekte in Berlin, das sind die Elternlotsen, die es gibt in einigen Schulen. Die berichten, wenn sie sich auf den Weg machen und mit Eltern arbeiten, die in den Schulen sind mit Migrationshintergrund, dann gelingt es auch, dass die aktiv mitmachen. Und das ist für die Kinder ganz, ganz wichtig, dass die Eltern sich auch um die Bildung der Kinder kümmern.

Was wir in Berlin auch sehr erfolgreich machen, ist das Projekt Elternlotsen oder Integrationslotsen und Stadtteilmütter. Das ist eine sehr niedrigschwellige Elternarbeit. Das heißt, wir schicken keine Pädagogen/innen auf die Eltern, sondern aus ihren eigenen Reihen, aus demselben Bildungsstand der Eltern, der Mütter holen wir Frauen raus, befähigen sie mit ganz, ganz wichtigen Erziehungsmaßnahmen, sagen, was ist wichtig: früh aufstehen, Schularbeiten machen, nachmittags wenig fern gucken, also wirklich die ganz, ganz elementaren Sachen, und schicken diese Frau auf die Eltern zu, auf die Mütter zu. Und das funktioniert.

Deutschlandradio Kultur: Betrachten wir das Thema mal aus der anderen Sicht, nämlich aus der Perspektive der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Ende letzten Jahres hieß es in einer Umfrage, jeder vierte Berliner denke negativ über Migranten. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus? Was bedeutet das für Sie?

Dilek Kolat: Eigentlich weiß man, dass es Stadtteile gibt, wo das Miteinander nicht so gut funktioniert, dass es auch Ängste gibt, dass Unzufriedenheit da ist. Da sage ich, das muss man wirklich ernst nehmen. Da muss man auch hingehen und sagen: Was sind die Ursachen für die Ängste?

Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja Kieze, wo die Deutschen oder die Menschen mit deutscher Herkunft in der Minderheit sind.

Dilek Kolat: Genau, in der Minderheit sind. Ich würde mich aber nicht trauen zu sagen, sind Deutsche in der Minderheit, fühlen sie sich unwohl. Das ist nicht automatisch so. Ich kenne auch ausreichend viele deutsche einheimische Berliner, die lange Jahre in Kiezen leben, wo der Migrantenanteil sehr hoch ist, und sie fühlen sich wohl. Es gibt tolle Nachbarschaften. Die Kinder gehen gemeinsam in die Kitas. Also, es gibt sehr gelungene gute nachbarschaftliche Beziehungen.

Deutschlandradio Kultur: Aber es muss ja etwas schief laufen, wenn jeder Vierte – nehmen wir mal die Studie an der Stelle ernst – sagt: Ich habe da Probleme. Da muss ja was schief laufen.

Dilek Kolat: Ja, wissen Sie, jeder Vierte sagt, ich hab ein Problem. Was kann dieses Problem sein? Ist das Problem, ich kann mit meinem Nachbarn nicht auskommen? Ist es das Problem, ich habe die Einstellung, dass die Migranten sowieso nicht nach Deutschland gehören? Ich hab ein Problem, kann auch heißen, es sind viel zu viele oder so. Das ist jetzt sehr vage, diese Aussage. Man muss gucken, wo sind die Probleme konkret und wie kann man dem begegnen?

Wenn Menschen ein Gefühl haben, da ist was nicht in Ordnung, dann muss man sich das wirklich genauer anschauen. Zum Beispiel in der Nachbarschaft kann man wunderbar vermitteln. Das machen wir. Wir haben ein mobiles Beratungsteam in Berlin. Wenn es eben Spannungen in der Nachbarschaft gibt – ein Extrembeispiel: Als die Moschee in Berlin gebaut wurde, gab es richtig viel Unruhe, Unsicherheit in der Nachbarschaft. Und da muss man reingehen, da muss man vermitteln. Da muss man Dialogforen machen. Denn meine Erkenntnis ist, je mehr man weiß über die andere Religion, je mehr man weiß über die andere Kultur, dann sind auch die Ängste weniger, dann gelingt das Zusammenleben auch.

Das andere, wo es richtig Konflikte gibt, das sind wirklich ganz nachbarschaftliche Dinge, dass sich jemand an die Regeln nicht hält im Haus oder solche Dinge. Das ist aber eine ganz andere Kategorie.

Deutschlandradio Kultur: Frau Kolat, Berlin begreift sich gern als Multi-Kulti-Stadt, aber es gibt auch eine andere Seite. 2011 mussten wir einen deutlichen Anstieg rechter Gewalt eben auch in Berlin erleben. Was kann man dagegen tun?

Dilek Kolat: Dagegen kann man viel tun. Wir haben ein Landesprogramm in Berlin, das Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Da bauen wir auf drei Füßen auf. Und ich glaube, das ist der richtige Weg. Zum einen ist wichtig, Zivilgesellschaft zu stärken. Denn Staat alleine kann dem nicht begegnen. Es ist ganz wichtig, dass es Menschen gibt, die sich engagieren, sei es im Kiez, aber auch in anderen Bereichen, die sagen, wir wollen nicht hinnehmen, dass es diese stark steigende Tendenz gibt.

Das Zweite ist natürlich, auf Demokratieerziehung zu legen und sehr früh anzufangen bei Kindern, bei Jugendlichen, Demokratieerziehung, aber auch Toleranzerziehung. Denn kein Mensch kommt als Rechtsextremer auf die Welt, sondern es hat was mit Einstellung zu tun, mit Gesinnung zu tun und auch das Umfeld sicher fügt dazu bei. Deswegen ist es ganz, ganz wichtig, sehr früh mit Kindern auch schon und mit Jugendlichen Demokratieerziehung zu machen und auch Toleranz zu erarbeiten.

Der dritte Bereich ist Opferschutz. Man darf Opfer von dieser Gewalt, von der Sie ja gesprochen haben, was ja zunimmt, nicht im Stich lassen. Die dürfen nicht das Gefühl haben, sie werden alleine gelassen, sondern sie sind ein Teil dieser Gesellschaft. Und die müssen auch betreut werden. Und das machen wir in Berlin erfolgreich. Und das ist auch bisher ganz gut gelungen. Trotz dieser Tendenz, dass die Gewaltdelikte in Berlin gestiegen sind, schaffen es Rechtsradikale, Rechtsextreme nicht richtig, hier durchzukommen. Das sieht man auch an den Wahlergebnissen. – Gott sei Dank.

Deutschlandradio Kultur: Wäre ein vierter Schritt ein Verbot der NPD? Würden Sie das für sinnvoll halten?

Dilek Kolat: Ein Verbot der NPD ist ein Muss. Denn mit Steuergeldern finanzieren sie Propaganda, was nicht gut für unsere Demokratie ist. Und ich habe selber immer im Rathaus Schöneberg das erlebt, wie sie da ihre Veranstaltungen abgehalten haben, Parteitage. Und wir haben immer Proteste vor dem Rathaus organisiert und gesagt, wir nehmen das jetzt nicht hin, das darf nicht zu einer Normalität werden, dass sie diesen Parteienstatus nutzen, in die Räume reingehen und alle ihre Aktivitäten, ja Hasskampagnen auch, finanzieren.

Das darf man nicht hinnehmen. Deswegen finde ich Gesichtzeigen ganz wichtig, finde ich zivilgesellschaftliches Engagement an der Stelle sehr, sehr wichtig. Aber da gehört auch dazu, dass diese Partei endlich verboten wird. Und Berlin hat ja die Hausaufgaben in dem Zusammenhang gemacht. Wir haben ja die V-Leute aus der Führungsebene schon vor vielen Jahren zurückgezogen. Und ich finde gut, dass die Innenminister sich jetzt auch da einig sind, dass dieser Schritt jetzt weiter verfolgt wird und dass man dann an einen Punkt kommt, wo man sagt, ja, jetzt könnte man es noch mal wagen.

Deutschlandradio Kultur: Frau Kolat, es klang schon mehrfach an, Sie sind eben auch Senatorin für Arbeit, vielleicht sogar gerade für Arbeit, in einer Stadt wie Berlin, die man ja auch schön unschön als Hartz-IV-Hauptstadt bezeichnen kann. Wie wollen Sie erreichen, dass die Stadt von diesem Image wegkommt?

Dilek Kolat: Indem wir ansetzen, was auch positiv in dieser Stadt passiert. Seit 2005 haben wir einen Trend, dass Beschäftigung zunimmt in Berlin. Und wir haben erstmalig die rote Laterne abgegeben. Das heißt, wir waren im letzten Monat nicht mehr Schlusslicht.

Deutschlandradio Kultur: Aber entschuldigen Sie, die Zahl der Hartz-IV-Empfänger bleibt praktisch gleich.

Dilek Kolat: Na ja, das ändert sich auch. Sie müssen wissen, dass Berlin strukturell einen Wandel hinter sich hat. Nach dem Mauerfall ist uns die Industrie hier weggebrochen. Wir haben einen enormen Anteil von Arbeitslosigkeit gehabt. Und seit 2005, und das ist wirklich die erfreuliche Entwicklung, ist es so, dass wir ständig fallende Arbeitslosigkeit haben und die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten steigt.

Und ich will, dass auch Langzeitarbeitslose und Hartz-IV-Empfänger von diesem positiven Trend profitieren. Das ist nämlich nicht automatisch, wenn hier Arbeitsplätze geschaffen werden, dass auch die Langzeitarbeitslosen und die Arbeitslosen aus der Stadt davon profitieren. Und da stelle ich eben zunehmend fest, dass wir ein Mismatch haben zwischen dem, was die Arbeitslosen, die Hartz-IV-Empfänger an Qualifikation hergeben, und zwischen dem, was die Unternehmen als Fachkräfte brauchen. Wir haben ja auch zugleich einen Fachkräftemangel in unserer Stadt.

Eine Studie mit Brandenburg gemeinsam hat gezeigt, dass wir bis 2030 460.000 unbesetzte Stellen haben werden.* Das heißt, das passt alles nicht zusammen. Und da lohnt sich das, aktive Arbeitsmarktpolitik so zu machen, die arbeitslosen Menschen so auch zielgenauer zu qualifizieren, dass sie dann auch diese Fachkräftebedarfe auch decken können und somit dann auch eine Chance haben, wieder in Arbeit zu kommen. Deswegen machen wir hier in Berlin, das haben wir in den ersten 100 Tagen schon gemacht, gezielt für Langzeitarbeitslose auch Beschäftigungsmaßnahmen, die mit Qualifizierung verbunden sind.

Deutschlandradio Kultur: Gleichzeitig lassen Sie das Programm ÖBS, das steht für "öffentlich geförderter Beschäftigungssektor", dieses Programm der rot-roten Vorgängerregierung, das lassen Sie jetzt auslaufen. Warum?

Dilek Kolat: Das Thema öffentlich geförderte Beschäftigung geht weiter. Das ist auch sehr wichtig, dass es weitergeht. Das haben wir auch in der Koalition so festgehalten. Das sind Maßnahmen für Langzeitarbeitlose. Dazu will ich aber sagen, dass der Bund in diesem Bereich drastisch gekürzt hat. Das kritisiere ich, weil wir in Berlin nach wie vor eine hohe Arbeitslosigkeit haben und wir nach wie vor einen hohen Anteil an Langzeitarbeitslosen haben und über 80 Prozent Hartz-IV-Empfänger.

Nichtsdestotrotz versuche ich mit den Möglichkeiten, die ich hier in Berlin habe, für diese Menschen was zu machen. Und da kommt der öffentlich geförderte Beschäftigungsbereich dazu. ÖBS wird in der alten Form nicht fortgeführt, wird aber jetzt mit einem neuen Konzept fortgeführt, nennt sich jetzt ÖGB. Mein Ziel ist, dass wir mehr Menschen fördern und zweitens auch auf Qualifizierung setzen. Ich will, auch wenn das marktferne Menschen sind, die auf Anhieb selber es nicht schaffen einen Job zu finden, will ich sie qualifizieren und auch coachen.

Denn Menschen, die lange Jahre aus dem Arbeitsprozess raus sind, brauchen Unterstützung, brauchen Orientierung.

Deutschlandradio Kultur: Nun sagen aber viele – beispielsweise auch Ihr Parteifreund, der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky -, es gebe nun einmal leider Menschen, die sind für den ersten Arbeitsmarkt schlicht nicht vermittelbar. Da kann man machen, was man will. Aber in öffentlichen Maßnahmen könnten die durchaus etwas Sinnvolles tun. Liegt er da so falsch?

Dilek Kolat: Nein, da liegt er total richtig. Das ist ja die Idee hinter diesem Konzept öffentlich geförderte Beschäftigung, dass man sagt, wir sehen ein, dass es Menschen gibt, die können wir nicht integrieren, also setzen wir sie ein für gemeinwohlorientierte Aufgaben, für sinnvolle Aufgaben im öffentlichen Interesse – im Bereich Mobilitätshilfe, Integration oder Kultur. Aber ich würde sie nicht aufgeben wollen.

Was haben diese Menschen davon, wenn wir sie zwei Jahre beschäftigen – ich sage mal – in schönen Projekten? Und danach schicken wir sie wieder in die Arbeitslosigkeit.

Ich will diese Menschen nicht aufgeben, sondern nicht für alle, aber für einen Teil von ihnen würde ich gerne auch Qualifizierung machen. Denn ich meine, dass unsere Arbeitsmarktlage in Berlin sich inzwischen so positiv gedreht hat, dass es auch für diese Menschen, die auf Anhieb als völlig marktfern gesehen werden, doch eine Chance gibt, einen Job zu finden. Und das wollen die Menschen. Die wollen nicht nur in schönen Sonderprojekten für uns ein paar Jahre schöne Sachen machen, da kriegen sie ein paar Euro mehr Geld und dann werden sie wieder in die Arbeitslosigkeit geschickt.

Das ist mein neuer Ansatz. Er hat auch Recht, dass er sagt, nehmt euch nicht zu viel vor. Alle integrieren, das ist Quatsch. Das will ich auch gar nicht. Aber für einen Teil will ich das trotzdem versuchen und ihnen diese Chance geben.

Deutschlandradio Kultur: Zu diesen schönen Sonderprojekten, die jetzt finanziell etwas ausgezehrt werden, gehören ja auch die Integrationslotsen, von denen Sie gesprochen haben, die Sie sehr positiv bewertet haben, also, arbeitslose Migranten, Migrantinnen, die Landsleuten – etwa beim Umgang mit Behörden – helfen. Spart da die Arbeitssenatorin Kolat etwas weg, was die Integrationssenatorin Kolat eigentlich ganz gut brauchen könnte?

Dilek Kolat: Das ist falsch! Die Integrations- und auch die Arbeitssenatorin spart gar nichts in Berlin. Ich habe 36 Millionen Euro in meinem Haushalt – nach wie vor. Und ich werde mehr Menschen fördern als vorher. Das ist ja das neue Konzept ÖGB.

Das, was Sie gerade ansprechen, hat mit der Instrumentenreform auf der Bundesebene zu tun. Der Bund hat ja die Instrumente, die uns hier zur Verfügung stehen für den Bereich öffentlich geförderte Beschäftigung völlig abgeändert. Das heißt, Instrumente laufen aus. Und neue Instrumente werden eingeführt. Deswegen: Projekte, die mit diesen Instrumenten gearbeitet haben, wie die Integrationslotsen, da läuft das erstmal aus. Und jetzt muss es Anschluss geben.

Was ich gemacht habe konkret, ist, ich habe mehr Bürgerarbeitsplätze für Berlin mobilisiert, mehr als vorher, 1.400 mehr, das ist nicht wenig, damit die Projekte, die jetzt auslaufen, jetzt auch Anschlussfinanzierung bekommen. Also, es ist leider so eine Umbruchzeit zurzeit da, aber das ist durch die Instrumentenreform auf Bundesebene begründet.

Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Frau Kolat.


Dilek Kolat, geboren 1967 in Kelkit/Türkei, lebt seit dem dritten Lebensjahr in Berlin. – 1986 Abitur, im Anschluss Studium und Studienabschluss als Diplom-Wirtschaftsmathematikerin an der TU Berlin. Danach Tätigkeit bei der Deutschen Kreditbank AG. Von 1995 bis 1999 Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Schöneberg. Seit 2001 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses (Landesparlament). Von 2006 bis 2011 stellvertretende Vorsitzende und finanzpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Seit dem 1. Dezember 2011 Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen. Dilek Kolat ist verheiratet mit Kenan Kolat, dem Bundesvorsitzenden der Türkischen Gemeinde.

*) Redaktioneller Hinweis: Die verschriftete Fassung weicht an dieser Stelle von der Audio-Fassung ab. In der Audio-Fassung heißt es 2013, laut Auskunft der zuständigen Senatsverwaltung war jedoch 2030 gemeint.