Digitales Lernen

"Die Kinder lernen 50 Prozent mehr"

Ein Schüler arbeitet in der Waldschule in Hatten in seinem Klassenzimmer am Tablet.
Es wird sicher noch eine Weile dauern, bis die digitale Bildungsrevolution Einzug in deutsche Klassenzimmer hält. © picture alliance / dpa / Carmen Jaspersen
Jörg Dräger im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 29.09.2015
Schöne neue Welt des Lernens: Den Satz des Pythagoras erklärt ein Video - und bei Fragen wendet sich der Schüler an den Lehrer. Der Bildungsexperte Jörg Dräger hält viel von der "digitalen Revolution" im Klassenzimmer. Doch sie berge auch Gefahren.
Der Vorstand der Bertelsmann-Stiftung und frühere Hamburger Wissenschaftssenator Jörg Dräger weiß von "beeindruckenden Erfolgen" zu berichten - aus New York: Dort säßen 90 Kinder zusammen im Matheunterricht, alle hätten ihren eigenen Lernplan und könnten auf Monitoren verfolgen, welche Übung als nächste dran sei. Lehrer begleiteten das Lernen: "Diese Kinder lernen 50 Prozent mehr - also den Stoff von anderthalb Jahren in einem Jahr." Der Vorteil liegt nach Überzeugung Drägers auf der Hand: Bei einem solchen Modell hätten die Lehrer "mehr Zeit für das Wesentliche" und müssten sich nicht mehr vornehmlich um die Vermittlung des Stoffes kümmern.
Problematisch allerdings, so räumt der Bildungsexperte ein, sei der Umgang mit den Daten der Schüler: Sie dürften nicht in falsche Hände geraten.
"Es ist eine schreckliche Vorstellung, (...) wenn ein Arbeitgeber Daten in die Hände bekommt und sagt: Dieser Kandidat wird im Alter von 45 einen Burnout haben, weil er in der siebten Klasse schon in Mathe Probleme hatte (...). Man kann diese Rückschlüsse treffen.
Umso wichtiger ist es, dass all die Daten, die beim Lernen entstehen, wirklich dem Einzelnen gehören und nicht irgendwie im Raum sind und von anderen missbraucht werden können. Große Chancen - große Risiken, es ist eine Gratwanderung."

Lesen Sie hier die Gegenposition zum Thema. Gerald Lembke, der an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg als Professor für Digitale Medien arbeitet, widerspricht Dräger grundsätzlich. In der Sendung "Studio 9 am Nachmittag" sagte er: "Es ist viel wichtiger, originäre Fähigkeiten wie Rechnen, Schreiben, Lesen erst mal richtig zu lernen, weil die sind basal wichtig, um nachher dann mit den Inhalten im Internet und mit dem Internet auch zielgerichtet umgehen zu können."


Das vollständige Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Schultafeln und Kreide, Bücher und Stifte, die sind in einigen Schulen längst perdu, so wie wir sie oder unsere Eltern sie noch kannten. Es wird sich das Lernen grundlegend verändern. Der Bildungsexperte Jörg Dräger, früherer Hamburger Wissenschaftssenator und heutiger Vorstand der Bertelsmann Stiftung, der hat jetzt ein Buch geschrieben über die digitale Bildungsrevolution und spricht darin von einem radikalen Wandel des Lernens. Er ist jetzt am Telefon, schönen guten Morgen, Herr Dräger!
Jörg Dräger: Schönen guten Morgen!
von Billerbeck: Zwei Versprechen sind ja bei diesem digitalen Lernen immer wieder Thema: Das erste lautet, es gebe einen Zugang für alle, und das zweite, das Lernen werde individuell zugeschnitten für jeden Einzelnen. Kann das klappen, kann die digitale Bildungsrevolution das leisten, was das alte Klassenzimmer nicht konnte?
Dräger: Sie kann es leisten, und das Besondere ist, sie kann es sogar gleichzeitig leisten. Sie schafft es also, eine Vorlesung für Hunderttausende von Studierenden anzubieten, aber trotzdem kriegt jeder sein individuell zugeschnittenes Lernprogramm. Das funktioniert ja auch in anderen Bereichen, wo Digitalisierung eben genau diesen massenhaften Zugang und den persönlichen Zuschnitt miteinander verbindet. Im analogen Zeitalter war das ein Widerspruch.
"Der Lehrer hat mehr Zeit für das Wesentliche"
von Billerbeck: Nun wissen wir ja, dass Lehrer in der klassischen analogen Lernform 20 Prozent nur Zeit hatten, sich den Problemen und dem Förderungsbedarf ihrer Schüler zu widmen. 80 Prozent der Zeit verbrachten sie damit, Lernstoff zu vermitteln. Wird sich das ändern, wenn da viel mehr Technik, viel mehr Digitales in den Klassenraum einzieht? Hat der Lehrer dann auch viel mehr Zeit, auf die Fragen und Probleme seiner Schüler, der vor ihm sitzenden oder um ihn herum sitzenden einzugehen?
Dräger: Ja, der Lehrer hat mehr Zeit für das Wesentliche. Wenn also zum Beispiel Schüler den Stoff beim ersten Mal mit einem Video beigebracht bekommen, wenn also ein Lehrer per Video den Satz des Pythagoras erklärt, dann hat der Lehrer im Klassenzimmer mehr Zeit für das Wesentliche. Und wir sind bei unseren Recherchen für das Buch einem Lehrer begegnet oder einer Lehrerin, die sagte, seitdem ich digitale Medien einsetze, muss ich nicht mehr Stoff unterrichten, ich kann Kinder unterrichten.
Also wirklich der Fokus auf das einzelne Kind und dafür die Zeit aufzuwenden, und das Kind und der Schüler können dann den Satz des Pythagoras eben mit einem Stück Lernsoftware oder einem Video sich angucken, aber alle die Fragen und natürlich auch die Sorgen und alles, was beim Lernen einhergeht, dafür gibt es weiterhin den Lehrer.
von Billerbeck: Klingt unglaublich toll, klappt das denn schon, dass da digitale und analoge Welt so ineinandergreifen?
Dräger: Es klappt an einzelnen Schulen, das ist überhaupt noch nicht flächendeckend, aber wir haben wirklich tolle Beispiele gesehen. Zum Beispiel in New York eine Schule, wo bei der Mathematik 90 Kinder im Klassenzimmer sitzen, jeder seinen eigenen Lehr- und Lernplan hat, und die Kinder sehen auf großen Monitoren, wo sie stehen, wo sie jetzt hin müssen, welche nächste Übung sie machen müssen. Die Lehrer gehen rum, begleiten das Lernen, es gibt einen großen Zentralrechner, der über Nacht wiederum berechnet, was das Programm für den nächsten Tag für jedes dieser Kinder ist.
Und diese Kinder lernen 50 Prozent mehr, also den Stoff von anderthalb Jahren in einem Jahr, als in vergleichbaren Schulen, also die Erfolge sind beeindruckend. Und es geht immer erst um das pädagogische Konzept und dann um die Technik. Und es geht um den Mix zwischen den digitalen und den ganz üblichen Komponenten – dem Lehrer, der betreut ... Also es geht gar nicht darum, dass das eine das andere ersetzt, sondern wo die sinnvolle Kombination ist, bei der der Schüler eben wie beschrieben so viel profitieren kann.
"Diese Daten dürfen nicht in die falschen Hände geraten"
von Billerbeck: Das sind die Möglichkeiten, die Sie da inbrünstig beschrieben haben, aber es gibt ja auch Risiken. Wenn man zum Beispiel daran denkt, dass diese Computer, diese digitale Welt ja nicht bloß bei Kindern eingesetzt wird, sondern auch an Stellen, wo darüber entschieden wird, welchen Berufsweg ich vielleicht einschlage oder ob ich eingestellt werde oder nicht, ist das nicht ein bisschen ein Problem, wenn irgendwann der Computer entscheidet darüber, welche Fachrichtung ich wählen soll, obwohl mein Herz ja was ganz anderes will?
Dräger: Der Computer wird nicht entscheiden, aber er wird Hinweise geben, aber der Umgang mit Daten, mit all diesen Prognosen, mit den Algorithmen, das ist eine Gratwanderung. Auf der einen Seite kann ich als Einzelner viele Informationen bekommen, Hinweise, welches Studienfach für mich besonders geeignet ist, welcher Job besonders passt. Auf der anderen Seite dürfen diese Daten nicht in die falschen Hände geraten.
Es ist eine schreckliche Vorstellung, und das wäre möglich, wenn ein Arbeitgeber Daten in die Hände bekommt und sagt, ja, also dieser Kandidat wird im Alter von 45 einen Burnout haben, weil er in der siebten Klasse schon Matheprobleme hatte und in der neunten Klasse und so weiter. Also man kann diese Rückschlüsse treffen. Umso wichtiger ist es, dass all die Daten, die beim Lernen entstehen, wirklich dem Einzelnen gehören und nicht irgendwie im Raum sind und von anderen missbraucht werden können. Große Chancen, große Risiken, es ist eine Gratwanderung.
von Billerbeck: Ihr Wort in Gottes Gehörgang, denn unsere Erfahrungen sind ja bisher, dass alles, was möglich ist, auch passiert. Der Bildungsexperte Jörg Dräger war das. Er ist Koautor des Buches "Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können", gestern bei DVA erschienen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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