Digitale Medien in der Schule

"Lernen für die echte Welt"

Letztes Jahr waren Lern-Apps das Thema auf der Bildungsmesser didacta.
Lern-Apps oder digitale Nachschlagewerke: Schüler haben viel von der digitalen Welt, findet Jöran Muuß-Merholz. © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Jöran Muuß-Merholz im Gespräch mit Dieter Kassel · 16.11.2016
Heute startet in Saarbrücken der 10. IT-Gipfel der Bundesregierung. Hauptthema: digitale Bildung. Davon hält auch der Erziehungswissenschaftler Jöran Muuß-Merholz viel. Computerfreie Schulen sind für ihn "Quatsch". Digitales Lernen erweitere enorm die bisherigen Möglichkeiten. Er hat Beispiele dafür.
Information und Kommunikation - damit werde in der Schule gearbeitet, sagt Jöran Muuß-Merholz. Und beides sei gegenwärtig "digital".
"Natürlich nicht nur. Es erweitert die Möglichkeiten, die wir vorher schon hatten, aber um ganz erhebliche Dimensionen. Ich würde sagen, Lernende und Lehrende sind Wissensarbeiter, und Wissensarbeiter arbeiten heutzutage eben digital."
Ein Beispiel sei ein digitales Nachschlagewerk: Damit gehe alles einfacher und schneller als mit einem analogen Wörterbuch. Die Schüler seien nicht darauf angewiesen, lange zu blättern:

Eine neue Ernsthaftigkeit

"Das Einfacher und Schneller bringt (...) tatsächlich eine ganz andere Qualität da rein. Man kann nämlich Texte lesen, die man sich selbst ausgesucht hat, und nicht nur die, auf die einen der Lehrer vorbereitet hat, das entsprechende Begleitmaterial zur Verfügung gestellt hat et cetera."
Möglich seien auch Projekte mit Schulklassen anderer Länder, wie es etwa eine Lehrerin mit ihren Schülern auf der Nordseeinsel Langeoog vormache: Die Kinder stellten sich auf Englisch gegenseitig Bücher vor, die sie gelesen haben, oder die Welt, in der sie leben: "Diese neue Ernsthaftigkeit, für die echte Welt was zu arbeiten und was zu lernen, das bringt, glaube ich, auch wirklich eine neue Qualität da rein."
Das Fazit des Erziehungswissenschaftlers: Es sei "Quatsch" zu sagen, man könne Schulen als "digitalfreien Raum" schaffen.

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Ab heute geht es auf dem 10. IT-Gipfel der Bundesregierung in Saarbrücken vor allem um den Einsatz digitaler Medien im Bildungswesen. Es geht auch um Studenten und Erwachsenenbildung, es geht aber nicht zuletzt um Computer und Internet an den Schulen. Mit dabei ist auch Jöran Muuß-Merholz, er ist Diplom-Erziehungswissenschaftler und Gründer der Hamburger Bildungsagentur Jöran & Konsorten.
Weil er in Saarbrücken mit dabei ist – er ist ja jetzt schon am Hamburger Flughafen, eigentlich lebt und arbeitet er in Hamburg, deshalb haben wir ihn dort jetzt mit einem Handy in ein halbwegs ruhiges Eckchen geschickt. Schönen guten Morgen, Herr Muuß-Merholz!
Jöran Muuß-Merholz: Guten Morgen!
Kassel: Sie moderieren morgen dann in Saarbrücken ein Forum mit dem Titel "Aufwachsen in der digitalen Welt". Und da treffen dann Schülerinnen und Schüler auf zwei gestandene Staatssekretärinnen, den Vorstandsvorsitzenden eines großen Schulbuchverlags und den Leiter der Aus- und Weiterbildung eines Industriekonzerns. Was meinen Sie, mit welcher Erwartung reisen Sie dahin? Glauben Sie, die sprechen dieselbe Sprache, wenn sie über digitale Medien sprechen, die Jungen und die Alten?
Muuß-Merholz: Ich denke, ein Stück weit schon, denn die wissen ja jeweils, dass das die andere Seite ist, und die Erwachsenenwelt blickt dann ganz verständnisvoll auf die Jugendwelt, und die Jugendwelt auf die Erwachsenenwelt. Wenn die unter sich sind, haben die aber tatsächlich teilweise ganz andere Sprachen. Wir Erwachsenen haben ja selten die Gelegenheit, in so eine Schülergruppe auf WhatsApp reinzugucken. Der Kommunikationsstil ist tatsächlich aus meiner Erfahrung ein ganz anderer als der, den wir Erwachsene so kennen und teilweise auch schätzen.
Kassel: Nun gibt es ja immer noch Pädagogen, die empfinden Handys und Computer und Internet und all das als Ablenkung vom Unterricht. Der Wissenschaftler Manfred Spitzer ist inzwischen recht berühmt dadurch geworden, dass er vor den negativen Folgen der Computernutzung für das kindliche Gehirn warnt. Andere wiederum sagen regelrecht, heutzutage Schule ohne digitale Medien ist völliger Quatsch. Liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen?
Muuß-Merholz: Ich bin eher bei den Leuten, die sagen, das ist Quatsch, zu sagen, man kann da einen digitalfreien Raum schaffen. Ich denke, wenn man sich anguckt, was Leute in der Schule machen, nämlich Lernende und Lehrende, dann ist das Arbeiten mit Informationen, das ist Arbeiten mit Kommunikation untereinander, und 2016 ist das, was wir da machen, eben digital. Natürlich nicht nur. Es erweitert die Möglichkeiten, die wir vorher schon hatten, aber um ganz erhebliche Dimensionen. Ich würde sagen, Lernende und Lehrende sind Wissensarbeiter, und Wissensarbeiter arbeiten heutzutage eben digital.

Ein Fenster zur Welt öffnen

Kassel: Aber nennen Sie doch ein paar Beispiele aus Ihrer Sicht – wie kann man digitale Medien im Unterricht sinnvoll einsetzen?
Muuß-Merholz: Ich nehme mal zwei Beispiele, ein ganz kleines und ein ganz großes. Das ganz kleine ist ganz einfach nur, wie sagt man, ist eine Senkung der Hürde. Wenn ich zum Beispiel in einem digitalen Nachschlagewerk nachgucke, zum Beispiel ein englisches Wort, dann kann man sagen, na ja, das ging ja vorher auch schon analog mit einem Buch. Jetzt geht es halt viel einfacher und schneller.
Das Einfacher und Schneller bringt aber tatsächlich eine ganz andere Qualität da rein. Wenn man als Schüler einen Text lesen kann und kann sehr schnell nachgucken und ist nicht drauf angewiesen, dass man irgendwo lange blättert oder eine Vokabelliste vom Lehrer hat, dann ändert das etwas Grundlegendes. Man kann nämlich Texte lesen, die man sich selbst ausgesucht hat, und nicht nur die, auf die einen der Lehrer vorbereitet hat, das entsprechende Begleitmaterial zur Verfügung gestellt hat et cetera. Das heißt, so eine kleine technische Wendung bringt ganz grundlegend andere Voraussetzungen in den Unterricht rein.
Ein großes Beispiel kommt von der kleinen Insel Langeoog. Da gibt es insgesamt 48 Grundschüler, das heißt, man ist relativ schnell am Ende, wenn man sich so umschaut, was gibt es alles in der Welt, wenn man tatsächlich auf dieser Insel bleibt. Und da habe ich auf der Insel Langeoog mit einer Grundschullehrerin gesprochen, die hat mir von ihrem Unterricht erzählt und hat gesagt, sie kann damit tatsächlich ein Fenster zur Welt öffnen.
Sie macht ganz viele Projekte mit Schulklassen in anderen Ländern zusammen, und mit dem Internet ist es dann egal, ob das andere Land Kanada oder Neuseeland oder die Türkei ist. Und da stellen sich die Schüler zum Beispiel gegenseitig auf Englisch Bücher vor, die sie gelesen haben, oder die Welt, in der sie leben. Und das bringt auch eine ganz andere Wendung rein, weil das eine ganz andere Ernsthaftigkeit bringt.
Es macht plötzlich einen Unterschied, ob der auf der anderen Seite mich versteht, oder ob der sich für das interessiert, was ich sage. Nicht, dass sich bisher keiner dafür interessiert hat, es gab ja einen Lehrer, der im Zweifelsfall sich die Endergebnisse angeguckt hat und eine Zahl oder einen Smiley druntergeschrieben hat. Aber diese neue Ernsthaftigkeit, für die echte Welt was zu arbeiten und was zu lernen, das bringt, glaube ich, auch wirklich eine neue Qualität da rein.

Lehrer müssen eine Grundkenntnis vom Digitalen haben

Kassel: Nun hören wir seit Jahren immer den Vorwurf, na ja, aber ein Lehrer ist ja kein IT-Experte. Muss er oder sie das wirklich sein? Geht es nicht um was anderes, zum Beispiel auch darum, zu vermitteln, wie man zum einen natürlich Informationen beschafft über digitale Medien, aber nicht zuletzt auch, wie man die, die man hat, dann bewertet. Denn man findet ja im Internet immer absolut alles.
Muuß-Merholz: Die kurze Antwort lautet ja. Die etwas längere Antwort lautet: Man muss schon eine Grundkenntnis haben von dem, wie das Ganze funktioniert, weil die digitale Welt ja nicht schnell mal aufgeholt werden kann im Sinne von wir bilden alle Lehrer fort, und dann können die auch so das Digitale. Der technologische Wandel ist ja rasant und geht weiter, das heißt, wir haben sozusagen ein fliegendes Ziel.
Und damit man da auch als Lehrer noch eine Idee hat, wie die Dienste, die in zwei Jahren, in fünf Jahren, in zehn Jahren, gerade die angesagten oder die hilfreichen Dienste sind, braucht es nicht immer eine Kenntnis von den neuesten Apps und den neuesten Web-Services, aber es braucht ein grundlegendes Verständnis.
Was es nicht braucht, ist, dass man als Lehrer ein Netzwerk in der Schule administrieren kann. Kurioserweise ist genau das das, was auf die Pädagogen abgewälzt wird. In jedem normalen Betrieb, wo 500 Leute mit dem Internet arbeiten, gibt es mindestens eine Vollzeitstelle für die Administration des Netzwerkes – in der Schule macht das ein Lehrer nebenbei.
Kassel: Das ist in der Tat kurios. Sie haben recht, aber dieses Detail ist mir noch gar nicht aufgefallen. Aber was ich mich frage bei dem, was Sie gerade gesagt haben über das, was Lehrer können müssen jenseits der Technik eben gerade – da könnte man doch auch von den digitalen Medien was lernen für den Unterricht überhaupt. Denn ist es nicht generell heute mehr so, dass es nicht darum geht, einzelnes Faktenwissen quasi – ich mag dieses Wort auch gar nicht – beizubringen den Schülern, sondern dass es eigentlich darum geht, zu lehren, wie man lernt. Sind Sie noch da?

Ein Vorteil: Andere haben ihre Erkenntnisse schon online gestellt

Muuß-Merholz: Es gab für einen kurzen Moment einen Aussetzer.
Kassel: Okay, dann sage ich den letzten Satz noch mal. Geht es nicht eigentlich grundsätzlich, ob nun digital oder analog, eigentlich nicht darum, Informationen jemandem beizubringen, sondern eigentlich zu lehren, wie man lernt?
Muuß-Merholz: Es braucht, denke ich, für die Zukunft beides. Ich würde nicht sagen, dass es nicht mehr das Faktenwissen braucht. Es kommt eine Menge dazu, das macht es ja noch schwieriger. Gleichzeitig ist da das Digitale unser Freund, weil wir davon ausgehen können, auch zum Beispiel als Pädagogen, dass andere Menschen auf der Welt schon mal ähnliche Fragestellungen und Probleme und Herausforderungen hatten wie wir.
Und viele davon haben ihre Erfahrungen und ihre Erkenntnisse aufgeschrieben und online veröffentlicht, sodass man gerade im digitalen Bereich sehr viel findet, selbst wenn man als einzelne Lehrkraft irgendwo in einer Schule ist, wo sich kein anderer dafür interessiert, wo es keine Fortbildung gibt, könnte ich im Netz andere finden, die ihre Erfahrungen mit mir teilen und diskutieren würden.
Kassel: Jörn Muuß-Meerholz. Er ist Diplom-Erziehungswissenschaftler und Gründer der Hamburger Bildungsagentur Jöran & Konsorten, und er ist einer der Teilnehmer des 10. IT-Gipfels der Bundesregierung, der heute in Saarbrücken beginnt, wo er jetzt gleich hinfliegt. Deshalb haben wir, daher auch die kurze Unterbrechung, am Hamburger Flughafen mit ihm gesprochen. Deshalb kann ich jetzt was sagen, Herr Muuß-Merholz, was ich selten am Ende von Gesprächen sage: Ich wünsche Ihnen einen guten Flug!
Muuß-Merholz: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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