Diesseits von Afrika

Flüchtlinge auf Lampedusa sind im März 2011 in provisorischen Zelten untergebracht
Flüchtlinge auf Lampedusa © picture alliance / dpa / Vincenzo Tersigni
Von Pieke Biermann · 05.05.2014
20 Quadratkilometer Kulturgeschichte – so wirbt der Verlag für ein Buch über Lampedusa. Doch seit Jahren stranden hier viele tausend Flüchtlinge auf der Flucht aus Afrika. Das Buch blendet diese traurige Entwicklung aber zum Glück nicht aus.
Gleich diesseits von Afrika, nur 120 Kilometer von der libyschen Küste entfernt, ragt der vorletzte Zipfel von Europa aus dem in jedem Wortsinn brodelnden Mittelmeer: Lampedusa. Gut 20 Quadratkilometer schroffer Stein, zu klein für die Wetterkarte des italienischen Fernsehens, aber seit Jahren groß in den allen Medien – als Symbol für die neue Welt-Unordnung seit dem Ende des letzten Kalten Kriegs. "Lampedusa" ist nach "Sarajewo" zum zweiten Synonym für Europas Versagen geworden. Aber was wir von dem Ort erfahren, schnurrt zusammen zu immer gleichen Bildern von erschöpften Männern, Frauen und Kindern, die es tatsächlich in Nussschalen übers Meer geschafft haben – oder eben nicht –, und mulmigen Gefühlen über unseren Umgang mit dem "Flüchtlingsproblem".
Mehr Randlage geht nicht. Und so hat leichtes Spiel, wer Lampedusa zum "Außenposten" oder "Einfallstor" degradiert, um sich gegen die Folgen der globalisierten Migration abzuschotten und die eigenen Grenzen mit "Frontex" immer weiter nach Süden zu schieben. Dahin, wo man die Umsetzung seiner repressiven Vorgaben skrupellosen Diktatoren überlassen kann, einem Gaddafi zum Beispiel.
In Wahrheit liegt Lampedusa mitten in Europas Herzen. Man muss nur hinsehen. Ulrich Ladurner tut das, er ist Auslandskorrespondent, seit vielen Jahren auf Krisenregionen spezialisiert und eben kein "Fallschirmreporter". Er nimmt sich Zeit für Menschen und ihre Orte. Er beobachtet, hört zu, sammelt, bohrt an scheinbar unbedeutenden kleinen Punkten in die Tiefe und schweift in die Breite. Vor allem lässt er sich irritieren und konfrontiert, was er findet, mit dem, was er mitbringt. So spürt er Zusammenhänge auf, für die die mediale Kurzatmigkeit keinen Sinn hat. Und so entfaltet sich, weil er auch noch verdammt gut schreiben kann, Lampedusa wie ein Europa im Miniaturformat.
Alles ist da: zuschanden gerodeter Boden, eine tückische See und grausame Stürme, ein eigensinniges Völkchen, für das es auch nach Jahrhunderten Piraterie, Sklavenhandel, Eroberungskriegen zur Seefahrerehre gehört, dass man Menschen in Not rettet, egal, wer sie sind. Kein Wunder, dass sich hier 1943 mussolinimüde Soldaten einem notgelandeten britischen Kampfflieger ergeben, der obendrein Jude ist. Auch die große Politik und ihre Militärstrategen waren immer da – von Karl dem und Katharina der Großen über die Alliierten im Zweiten Weltkrieg bis zur NATO. Und mancher Grande der Literatur hat dieses Stückchen Europa zum Ort seiner Reflexionen über Tod und Leben und die ganze tragicomédie humaine gemacht – Ariost für seinen "Orlando Furioso" mit Sicherheit, Shakespeare für seinen "Sturm" mit einiger Wahrscheinlichkeit. Der Verfasser des "Gattopardo" dagegen, der so heißt wie die Insel, die seine verarmte Familie 1842 verkauft hatte, bespöttelt sie als "melancholischen Felsen".
Ladurner beleuchtet mit all diesen Leuchttürmen der Geschichte immer wieder die Menschen hier und heute auf der Insel, aber er zwingt seine Beobachtungen nie zum alles erklärenden Gesamtbild zusammen. Die Details erhellen in ihrer Vielfalt, was Europa sein könnte, wenn wir Resteuropäer von Lampedusa lernen würden.

Ulrich Ladurner: Lampedusa – Große Geschichte einer kleinen Insel
Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien 2014
144 Seiten, 19,90 Euro